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Ich fühlte, wie mein Herz im Einklang mit den Gebetsflaggen hinter uns glücklich schlug, und streckte eine Hand aus. »Da ist es«, sagte ich zu George. »Da ist Shambhala, da ist der Palast von Kaiapa, da ist das Lotus-Königreich!«

Er sah mich lange, lange an.

Tja, ich vermute, er hatte ein Disneyland-Schloß oder ein paar Kristallhäuser erwartet, die drei Meter über dem Boden schwebten, doch so ist es nun mal nicht. Ich mußte ihm Zeit geben, sich daran zu gewöhnen, und so marschierte ich den Weg hinab, und er folgte mir.

Kurz über lang sprang Colonel John hinter einem Felsen hervor und brüllte »Halt!«, was seine Lungen hergaben. George erschreckte sich so sehr, daß er beinahe einen Herzschlag bekommen hätte.

Vor uns stand ein kleiner, drahtiger Abendländer mit einem runzligen, schiefen Gesicht. Er trug einen Tarnanzug und hielt ein großes altes Maschinengewehr genau auf uns gerichtet.

»Schon in Ordnung!« sagte ich zu beiden. »Ich bin’s, Colonel. Ich und ein guter Freund.«

Er musterte uns mit einem vogelähnlich starren Blick. Sein Gesicht war seltsam, runzlig wie das eines alten Mönchs, der zu viele Jahre in großer Höhe in der Sonne verbracht hat — oder, um den Kampfanzug zu berücksichtigen, als fechte er seit zwanzig oder dreißig Jahren einen Gebirgskrieg aus. Ein großer, narbiger Riß auf der linken Seite seines Kopfes verstärkte den letzteren Eindruck, wie auch der militärisch kurze Stoppelhaarschnitt der fünfziger Jahre. Doch die Halsbänder mit Türkisen und Korallen und die Amulette auf seinem Tarnanzug sprachen eher für das Mönchsbild, wie auch seine Augen, in denen etwas Asiatisches lag. Alles in allem hatte es den Anschein, als seien ein alter tibetanischer Mönch und ein im Ruhestand lebender Ausbildungsunteroffizier des Marine Corps zu einem Körper verschmolzen. Was mehr oder weniger ja auch der Fall war.

»George«, sagte ich vorsichtig, »das ist Colonel John Harris, ehemals bei der CIA und dem U.S. Marine Corps. Er kümmert sich heutzutage um die Sicherheit des Tales.«

»Ich bin die Sicherheit des Tales«, schnappte der Colonel in einem mittelwestlichen Akzent.

»Na schön. Colonel, das ist George Fergusson. Er ist hier, um uns bei dem Problem der Straße, die nach Chhule geführt werden soll, zu helfen.«

»Beweisen Sie’s«, schnappte der Colonel.

»Na ja«, sagte ich hilflos. Dann wechselte ich ins Tibetanische und sprach langsam und deutlich, da der Colonel einer der wenigen Menschen auf Erden ist, die das Tibetanische noch schlechter sprechen als ich. Ich intonierte ein kurzes Gebet an die Kongchog Sum, die Drei Edlen. »Sannggyela kyabsu chio«, sagte ich, was soviel hieß wie ›Ich suche Zuflucht in Buddha!«.

»Ah!« sagte der Colonel und hängte sich das Gewehr um die Schulter. Er legte die Hände zusammen und verbeugte sich nach Art der Novizen. »Geehrt durch Ihre Anwesenheit«, sagte er auf Tibetanisch. »Gendunla kyabsu chio«, was soviel heißt wie ›Ich nehme Zuflucht im Mönchtum!‹ Was für John allerdings zutraf.

»Wir sind zum Tal unterwegs«, sagte ich, im Tibetanischen bleibend. »Kommen Sie heute abend hinab?«

»Ich habe Wache«, sagte er. Er runzelte die Stirn und fuhr auf Englisch fort: »Bin morgen um null achthundert unten!«

»Dann sehen wir Sie beim Frühstück«, sagte ich und eilte den Weg hinab; George blieb mir dicht auf den Fersen.

»Wer, zum Teufel, war das?« fragte George, als wir außer Hörweite waren.

»Tja, weißt du, in Shambhala leben Menschen aus der ganzen Welt. Wenn sie über das Tal stolpern und die richtige Gesinnung dafür haben, bleiben sie. Wenn sie nicht die richtige Gesinnung haben, erkennen sie es nicht einmal. Du wärest überrascht, wie viele Trekker zufällig über den Paß kommen, einfach glauben, sie wären in einem x-beliebigen, entlegenen Dorf, und wieder verschwinden.«

Keine Antwort von George.

»Und wann ist dieser Colonel John eingetroffen?« sagt er schließlich.

»Er war beim CIA, als sie in den sechziger Jahren den Tibetanern halfen, den Widerstand gegen China zu organisieren. Du weißt darüber Bescheid?«

»Nein.«

»Sie halten es echt geheim. John verbrachte ein paar Jahre mit einer Guerilla-Gruppe in Mustang. Also muß er irgendwann Anfang der Siebziger hierher gekommen sein. Jetzt ist er ein Mönch, und gewissermaßen auch Shambhalas Verteidigungsministerium.«

»Verteidigungsministerium«, sagte George.

Wir preschten wie eine Lawine zu Tal und trafen kurz nach Sonnenuntergang mit pochenden Knien dort ein. Ich führte George direkt zum Haus von Kunga Norbus Familie, und als ich zwischen den vertrauten dreistöckigen Gebäuden die schmalen Steinstraßen entlangschritt, atmete ich die Gerüche von Milchtee und Rauch und nasser Yakwolle ein, und sie drangen wie ein Messer direkt ins Herz meiner Erinnerungen, und ich lachte und begrüßte die Menschen, denen wir begegneten. Es hatte leicht zu schneien begonnen; die Flocken schimmerten wie Katzensilber in der Luft, und ich ertappte mich, wie ich über die Straßen tanzte, trunken vor Freude, nach Hause gekommen zu sein.

Kunga Norbus älteste Schwester Lhamo begrüßte uns an der Tür mit einem breiten Lächeln, brachte uns hinauf in die Küche, ließ uns auf einer breiten Bank vor einer getäfelten Wand Platz nehmen und schickte sich an, uns zu bewirten. Der größte Teil der Familie kam herein, um George zu betrachten und mit mir zu sprechen — Kunga Norbus uralte Mutter, seine jüngeren Schwestern und deren Familien, ein paar entferntere Verwandte, die sie aufgenommen hatten, und die Verwandten dieser Verwandten, bis wir dicht gedrängt saßen. Ich wärmte mir am Feuer die Füße und versuchte, mir mein Tibetanisch in Erinnerung zurückzurufen, um mich mit ihnen zu unterhalten. Lhamo tischte ein Festmahl auf, Tsampa und Buttertee natürlich, aber auch Yakkäse, Margambutter, eine trockne Creme namens Pumar und eine Art Käsekuchen, den sie Thud nennen, vielleicht wegen des Geräuschs, mit dem er unten im Magen aufschlägt. All die vertrauten Geschmackserfahrungen und Gesichter und der Geruch des Yakdungfeuers ließen mich vor Zufriedenheit schnurren, und ich versuchte, ihnen von unserer Reise zu erzählen.

George schwieg natürlich während der Mahlzeit, und er trank keinen Buttertee und aß so wenig, wie es ihm möglich war, ohne seine Gastgeber zu beleidigen. Doch selbst mit den paar Bissen war seine prophylaktische Diät hinfällig, und ich hatte den Eindruck, als mache ihm das schwer zu schaffen; er lauschte seiner Verdauungstätigkeit und schien im Geiste zu überlegen, wieviel Antibiotika er mitgenommen hatte. Er sah sich im Zimmer um, musterte die Teppiche und Schärpen und die Schüsseln und Töpfe aus hellem verbeultem Kupfer und den schwarzen gußeisernen Topf und die Vorhänge und die flache Kohlenpfanne und die großen Butterfässer und die Nyindrog- Truhen und den Webstuhl in der Ecke, und er sah müde und geknickt aus, als habe er mit etwas völlig anderem gerechnet. Ich schätze, er sah einen überfüllten, rauchigen kleinen Holz- und Ziegelraum, und war deshalb so niedergeschlagen.

Nun ja, ich vermute, das Leben in einem buddhistischen Dorf im Himalaja enthüllt seine Schönheit nicht auf den ersten Blick, besonders im Monsun nicht, obwohl, wie ich schon sagte, das Tal, in dem Shambhala liegt, vor dem schlimmsten Wetter geschützt ist. Trotzdem regnete oder schneite es fast jeden Tag eine oder zwei Stunden. Und seit die Chinesen Tibet eingenommen haben, leidet Shambhala unter Überbevölkerung, da es gewissermaßen als geheimes Flüchtlingslager dient. Deshalb umgeben die großen Zelte aus Yakwolle der Bergnomaden das Dorf, und deshalb waren die alten Steinhäuser und das Kloster Kaiapa so überfüllt. So viele Menschen schaffen natürlich Probleme, und der Zustand des Ortes war nicht angeten, George zu beeindrucken. Lhamo versuchte es, indem sie uns das beste Schlafzimmer im Haus gab, direkt über der Küche, wo es am wärmsten war, doch George hatte immer wieder Alpträume, daß das Haus abbrannte, da der Rauch vom Küchenofen in unser Zimmer quoll und es riechen ließ, als brenne das Haus ab. Also stolperte er jeden Morgen sprachlos und erschöpft hinaus, und vor ihm lag dann ein seltsam überfülltes Gebirgsdorf, als sei Markttag, was natürlich nicht der Fall war, und kranke Kinder weinten, weil sie Grippe hatten, und Dr. Choendrak, der Arzt des Klosters, wanderte händeringend durch den Regen, weil all die hervorragenden Planzen- und Mineralmedizinen von Mendzekhang, dem Klosterkrankenhaus in Lhasa, schon längst verbraucht waren.