Georges Eindruck von den Dingen wurde auch nicht besser, als Kunga Norbu hinabkam, um uns zu begrüßen, und auf seine übliche Art durch George hindurchsah und uns dann beauftragte, mit ein paar Leuten Terrassenwände zu erneuern, was eine Sträflingsarbeit ist, da man die Felsen wie Figuren in einem Zeichentrickfilm mit einem Vorschlaghammer aufbrechen muß. Einen oder zwei Tage solche Arbeit, und George war unzufrieden. »Gottverdammt, Freds, ich könnte in Thamel in der Sonne liegen, und hier kloppe ich Steine. Das ist nicht Shambhala, und du weißt es auch.«
Ich versicherte ihm, daß es Shambhala sei.
»Weshalb ist es denn hier so überfüllt? In jedem Haus leben zwei- oder dreimal soviel Menschen, wie es eigentlich der Fall sein sollte, und dann sind da noch die Zelte. Die Sherpas würden niemals so leben.«
Ich erzählte ihm von dem Flüchtlingsproblem. Von Menschen, die unüberquerbare Pässe überquerten, um den Chinesen zu entkommen, oder die unbegehbare Schlucht hinaufkrochen, die von dem Tal zum tibetanischen Plateau abfiel, und für die Hoffnung auf Flucht den Tod in Kauf nahmen und ihn oftmals auch fanden.
»Also leben sie hier behelfsmäßig«, sagte George überrascht.
»Wenn man es nach vierzig Jahren noch so nennen kann.«
An diesem Abend sah sich George etwas aufmerksamer um. Und zum erstenmal bemerkte er, daß bei uns im Haus Kranke lebten. Eine Kusine Lhamos namens Sindu hatte einen kleinen Jungen, der vor Durchfall ganz geschwächt war. Und diese Kusine Sindu war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit einer Menge nepalesischem Blut in ihren Adern, so daß ihr Gesicht schärfer geschnitten war als das der Tibetanerinnen, eins jener Trans-Himalaja-Gesichter, die so schön sind, daß man es fast nicht glauben kann. Und kein Ehemann in der Nähe. Also saß George da und beobachtete sie, als sie sich in der Küche um ihr krankes Baby kümmerte, und ich sah, wie er im Geiste seine Pillen zusammenrechnete.
Am nächsten Tag zwangsverpflichtete uns Colonel John zu einem Feuerholz-Trieb, was bedeutete, daß wir den ganzen Morgen eine Herde Yaks zusammen- und ins Tal hinabtreiben mußten, zum oberen Ende der Schlucht, die sich nach Tibet erstreckte. Yaks sind große, haarige Zeitgenossen, verdrossen, unkooperativ und jederzeit zu einer plötzlichen Auflehnung fähig, doch der Colonel trieb sie hinab, als seien sie Kadetten in einem Ausbildungslager, schlug sie heftig mit seinem Spazierstock und wurde dafür nur mit Blicken ihrer großen, runden, verdrossenen Augen bedacht.
Am Mittag ließen wir die Yaks auf der Wiese zurück und erkletterten den steilen Südhang des Tals, bis wir ein Kiefernwäldchen erreichen. Colonel John holte drei kleine Äxte aus seinem Rucksack, Eisenzeit-Werkzeuge ohne jedes Gewicht, und wir schickten uns an, die Bäume zu fällen, auf die er zeigte. »Mann«, sagte George unglücklich, während er drauflosschlug, »das ist schrecklich! Sowas nennt man doch Abforstung, oder?«
Der Colonel und ich hielten inne und sahen ihn an.
»Keine Wahl«, sagte der Colonel. »Yakdung brennt nicht ohne etwas Holz im Feuer.«
»Aber die Erosion …«
»Ich weiß über die Erosion Bescheid!« schrie der Colonel und hätte beinahe seine Axt gegen George geschwungen. »Wir lassen den Stumpf und die Wurzeln zurück, damit sie soviel Erde wie möglich halten, und pflanzen neue Sämlinge an.« Er schlug wütend auf den Baum ein, an dem er arbeitete. »Dreitausend Jahre hat dieses Tal eine stabile Bevölkerung gehabt, doch was kann der Dalai Lama bei einem versklavten Tibet schon machen? Das ist eine der wenigen Fluchtmöglichkeiten.«
George fragte zögernd, ob man nicht einige Flüchtlinge in tibetanische Dörfer und indische Siedlungen umsiedeln könne.
»Wen wollen Sie denn aussuchen?« fragte der Colonel. »Wollen Sie sie vom letzten freien Fleck Erde fortschicken? Auf irgendeine Landwirtschaft in Madras, wo sie an der Tiefenkrankheit sterben? Ich habe sie da unten gesehen und sie zu einem Berg geführt, wie damals, als wir den Widerstand nach Colorado brachten, und sie liefen los und sprangen in den Schnee! Wir hatten dort einen Yak aus einem Zoo, und sie liefen zu ihm und umarmten ihn!« Mit einem wütenden Schlag fällte er den Baum. »Ich würde nicht bestimmen wollen, wer von hier verschwinden muß.«
»Erzählen Sie George von Ihren Khampa-Guerillas«, schlug ich vor.
John seufzte. »Ich brachte diese Burschen zu der Zeit nach Colorado, als man doch darauf zählen konnte, daß die amerikanische Regierung gegen die Kommunisten kämpft, und ich fragte ein Zimmer voll von ihnen: Wer von euch will aus einem Flugzeug springen und gegen die Chinesen kämpfen, und sie hatten nicht die geringste Ahnung von Fallschirmen und so, doch alle hoben die Hand. Und ich sagte, das sind Jungs nach meinem Geschmack. Genauso war das Marine Corps, bevor es verweichlicht wurde! Wir kamen her und heizten diesen Mördern ein! Bis Birendra uns dann verriet!«
Damit ging er einen weiteren Baum an und hackte drauflos, als habe er die Knie des Königs von Nepal vor sich. Er murmelte zusammenhanglose Phrasen, mit denen George, wie ich sah, nur wenig anfangen konnte. »Suppe und Kaffee aus Blechdosen und gelaufen, bis ihre Herzen hämmerten!« Hack hack hack. »Hans auf einer Seite und Gurkhas auf der anderen! In alle zwölf Winde verstreut!« Hack hack hack. »Dalai Lama sagt aufhören, aber wer kann sich Birendra ergeben! Pachen schnitt ihm statt dessen die Kehle durch, und ich kann es ihm nicht verdenken! Hätte es selbst tun sollen!« Und er fällte den Baum mit einem wilden Schlag.
In der Hoffnung, ihn ablenken zu können, erwähnte ich auf Tibetanisch, daß wir schon soviel Holz gehackt hatten, wie die Yaks tragen konnten.
»Wir tragen ebenfalls!« schnaubte er mich auf Englisch an und arbeitete weiter wie eine Kettensäge.
Also war es schon später Nachmittag, bevor wir uns in einem kalten Regen wieder talaufwärts schleppten, beladen mit kleinen Kiefern. Ich ließ den Colonel vorausgehen, damit ich die Fragen beantworten konnte, mit denen George mich dann auch bombardierte. Der Colonel und ein paar Khampas, so erklärte ich ihm, hatten den Kampf fortgesetzt, nachdem sich König Birendra Mao unterworfen und der nepalesischen Armee befohlen hatte, den Chinesen zu helfen, die tibetanischen Guerillas in Mustang zu vernichten. Nach diesem Unglück hatten der Colonel und einige Khampas sich in die Berge Tibets zurückgezogen, bis sie in einen Hinterhalt oder so gerieten — der Colonel erinnerte sich nur noch ungenau daran, da er dabei am Kopf verletzt wurde. Er wanderte eine Weile ziellos durch die tibetanische Wildnis, bis er dann über den Paß nach Shambhala kam. Dort hatte Dr. Choendrak ihn geheilt und sein Gedächtnis bis zu einem gewissen Ausmaß wiederhergestellt. »Aber er ist immer noch etwas durcheinander«, sagte ich.