Kapitel 8
David und Laurie wohnten nicht sehr weit von der Schule entfernt. Davids Schulweg führte nicht unbedingt an Lauries Haus vorüber, aber seit der zehnten Klasse hatte er immer einen Umweg gemacht. Damals, als Laurie ihm zuerst auffiel, ging er jeden Morgen in der Hoffnung durch ihre Straße, sie würde gerade im richtigen Augenblick auf dem Weg zur Schule aus der Haustür treten. Anfangs» begegnete «er ihr ungefähr jede Woche einmal. Als sie sich schon besser kannten, trafen sie sich häufiger, und vom Frühling an gingen sie fast jeden Morgen gemeinsam. Lange hatte David geglaubt, das sei einfach eine Frage des Glücks und der richtigen Zeitwahl. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass Laurie von Anfang an hinter der Gardine gewartet und nach ihm Ausschau gehalten hatte. Anfangs war sie nur einmal wöchentlich ganz» zufällig «mit ihm zusammengetroffen, später dann immer häufiger. Als David am nächsten Morgen Laurie abholte, lief sein Kopf vor Gedanken förmlich über.»Ich sage dir, Laurie«, behauptete er, während sie miteinander zur Schule gingen,»genau das braucht unsere Footballmannschaft!«
«Die Footballmannschaft braucht vor allem Leute, die sauber abspielen können, eine Verteidigung, die nicht lange herumfummelt, ein paar Angreifer, die sich ohne Angst ins Gedränge stürzen und schließlich…«»Hör auf!«sagte David gereizt.»Ich meine es ernst. Gestern habe ich die Mannschaft dazu überredet. Brian und Eric haben mir geholfen. Und die anderen sind tatsächlich darauf angesprungen. Das heißt natürlich nicht, dass nach einem einzigen Training plötzlich alles anders geworden ist, aber ich hab's schon gespürt. Tatsächlich: Ich konnte den Teamgeist spüren! Sogar Trainer Schiller war beeindruckt. Er hat gesagt, wir wären wie eine ganz neue Mannschaft.«
«Meine Mutter sagt, ihr käme das wie Gehirnwäsche vor.«»Was?«
«Sie sagt, Mr. ROSS manipuliert uns.«»Verrückt!«behauptete David.»Woher will sie das wissen? Außerdem, was kümmert dich, was deine Mutter meint? Du weißt doch, dass sie sich über alles dauernd Sorgen macht.«
«Ich habe ja nicht gesagt, dass ich ihr recht gebe«, antwortete Laurie.
«Aber du hast auch nicht gesagt, dass du anderer Meinung bist«, bemerkte David.
«Ich habe dir nur erzählt, was sie gesagt hat. «David wollte das Thema fallen lassen.
«Und wie will sie das überhaupt wissen. Zur Welle kann sie sich wahrscheinlich erst eine Meinung bilden, wenn sie einmal in der Klasse war und gesehen hat, wie das alles funktioniert. Aber Eltern wissen ja immer alles besser!«Laurie fühlte plötzlich den Wunsch, ihm zu widersprechen, doch sie hielt sich zurück. Wegen einer solchen Kleinigkeit wollte sie keinen Streit mit David. Sie mochte überhaupt keinen Streit mit ihm. Außerdem war die Welle für die Mannschaft vielleicht wirklich gerade richtig. Irgend etwas brauchte das Team bestimmt. Sie beschloss, das Thema zu wechseln.»Hast du einen Helfer für deine Infinitesimalrechnung gefunden?«fragte sie.»Die einzigen, die davon eine Ahnung haben, sind in meiner Klasse«, antwortete David.»Und warum fragst du sie dann nicht? Irgendeiner würde dir doch bestimmt helfen.«»Ja, sicher«, bestätigte David.»Aber ich will ihre Hilfe nicht.«
Laune seufzte. Der Wettbewerb zwischen den Schülern war manchmal unheimlich stark. Aber so weit wie David trieben es nur wenige.»Amy hat gestern beim Essen zwar nichts gesagt, aber wenn du sie fragst, hilft sie dir bestimmt.«»Amy?«
«In Mathe ist sie unglaublich gut«, erklärte Laurie.»Ich wette, sie kann deine
Probleme in zehn Minuten lösen.«»Aber ich habe sie doch beim Essen gefragt«, sagte David.»Ich glaube, sie war einfach zu schüchtern. Sie mag Brian sehr, und sie mag ihn mit ihrer Tüchtigkeit nicht vergraulen.«
David lachte.»Ich glaube, da braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Das könnte sie höchstens, wenn sie zwei Zentner schwer wäre und im Team von Clarkstown spielte. «Als die Schüler an diesem Morgen die Klasse betraten, sahen sie, dass an der hinteren Wand ein großes Poster mit der symbolischen Darstellung einer blauen Welle angebracht war. Mr. ROSS war heute anders als sonst gekleidet. Während seine Kleidung sonst eher lässig wirkte, trug er heute einen blauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Die Schüler eilten an ihre Plätze, während der Lehrer zwischen den Tischen auf und ab ging und kleine gelbe Karten verteilte. Brad stieß
Laurie an.»Gibt's jetzt etwa Fleißkärtchen?«Laurie betrachtete die Karte, die sie gerade bekommen hatte.»Das ist eine Mitgliedskarte der Welle«., wisperte sie zurück.
«Was ist das?«erkundigte sich Brad.»Genug jetzt!«rief Mr. ROSS und klatschte in die Hände.»Keine Unterhaltungen, bitte!«
Brad saß sofort unbeweglich. Laurie verstand seine Überraschung. Mitgliedskarten?
Das konnte doch nur ein Scherz sein. Mr. ROSS hatte inzwischen die Verteilung beendet und stand vor der Klasse.»Jeder von euch ist jetzt im Besitz einer
Mitgliedskarte«, sagte er.»Wenn ihr sie umdreht, so werdet ihr bemerken, dass manche Karten mit einem roten X gekennzeichnet sind. Wer dieses rote X auf seiner Karte findet, ist ein Helfer und wird mir künftig jedes Mitglied der Welle melden, das die Regeln verletzt. «Alle Schüler schauten nach, ob ihre Karte mit dem roten X gekennzeichnet war. Diejenigen, die das Zeichen fanden, wie zum Beispiel Robert und Brian, lächelten zufrieden. Die anderen, zu denen Laurie gehörte, schienen weniger angenehm berührt zu sein. Laurie hob die Hand.»Ja, bitte, Laurie?«
«Welchen Zweck soll das haben?«fragte sie. In der Klasse war es still. Ben antwortete nicht sofort. Dann fragte er:»Hast du nicht etwas vergessen?«»Ach ja, richtig!«Laurie stand auf und wiederholte:»Mister ROSS, welchen Zweck haben diese Karten?«Ben hatte erwartet, dass jemand danach fragen würde. Der Grund sollte allen sogleich klar werden, denn er erklärte jetzt:»Die Karten sind nur ein Beispiel dafür, wie eine Gruppe sich selbst verwalten kann. «Laurie stellte keine weitere Frage. Ben drehte sich zur Wandtafel und schrieb zu den Sätzen
MACHT DURCH DISZIPLIN und
MACHT DURCH GEMEINSCHAFT das Wort
HANDELN
«Nachdem wir jetzt wissen, was es mit Disziplin und Gemeinschaft auf sich hat«, erklärte er der Klasse,»müssen wir über das Handeln nachdenken. Im Grunde sind Disziplin und Gemeinschaft sinnlos, wenn sie nicht zum Handeln führen. Die Disziplin gibt uns das Recht zum Handeln. Eine disziplinierte Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel kann auch gemeinsam handeln, um dieses Ziel zu erreichen. Sie muss es sogar tun, wenn sie das Ziel erreichen will. Glaubt ihr an die Welle!«Das Zögern dauerte nur einen Augenblick, dann sagten alle wie mit einer Stimme:»Mister ROSS, jawohl!«Der Lehrer nickte.»Dann müsst ihr auch handeln! Ihr dürft niemals zögern, etwas für eure Überzeugung zu tun. Die Mitglieder der Welle müssen zusammenarbeiten wie die Teile einer gut funktionierenden Maschine. Durch harte Arbeit und festen Zusammenhalt untereinander werdet ihr schneller lernen und mehr leisten. Aber nur wenn ihr einander unterstützt, wenn ihr zusammenarbeitet und unsere Regeln einhaltet, könnt ihr den Erfolg der Welle sichern.«
Während er sprach, standen alle Schüler an ihren Plätzen. Laurie war mit den anderen aufgestanden, doch sie verspürte heute nicht diese seltsame Kraft und die Einheit, die sie in den letzten Tagen empfunden hatte. Heute kamen ihr die Geschlossenheit der Klasse und der absolute Gehorsam dem Lehrer gegenüber fast ein wenig unheimlich vor.
«Setzt euch!«befahl Mr. ROSS. Der Lehrer fuhr fort:»Als wir vor einigen Tagen die Welle begründet haben, spürte ich, dass einige von euch sich große Mühe gegeben haben, die richtigen Antworten zu finden und bessere Mitglieder zu sein als andere.
Das muss nun aufhören. Ihr tragt untereinander keinen Wettkampf aus, sondern ihr arbeitet gemeinsam für ein Ziel. Ihr müsst euch als ein Team empfinden, dem ihr alle angehört. Vergesst nicht: In der Welle seid ihr alle gleich. Niemand ist wichtiger oder beliebter als der andere, und niemand ist von dieser Gruppe ausgeschlossen.