In diesem Augenblick traf Laurie eine Entscheidung.»Ich gehe nicht hin«, sagte sie.
«Was sagst du?«fragte David erstaunt.»Warum denn nicht?«
«Weil ich nicht will.«
«Aber, Laurie, das ist eine unglaublich wichtige Versammlung«, erklärte David.»Alle neuen Mitglieder werden dort sein.«
«David, ich glaube, dass du und alle anderen diese Welle ein bisschen zu ernst nehmen.«
David schüttelte den Kopf.»Nein, das tue ich nicht. Aber du nimmst sie nicht ernst genug. Schau mal, Laurie, du bist immer ein Führertyp gewesen. Die anderen Schüler haben immer auf dich geschaut. Du musst einfach bei dieser Versammlung sein.«»Aber das ist ja genau der Grund, aus dem ich nicht hingehe«, versuchte Laurie zu erklären.»Sie sollen sich ihre eigene Meinung über die Welle bilden. Sie sind Individuen. Sie brauchen mich nicht als Helferin.«»Ich verstehe dich nicht«, sagte David.»David, ich kann nicht glauben, wie verrückt plötzlich alle geworden sind. Die Welle übernimmt einfach die Macht über alles.«
«Ja, sicher«, bestätigte David.»Weil die Welle etwas Vernünftiges ist. Sie funktioniert. Alle gehören zum selben Team. Endlich einmal sind alle gleich!«»Das ist ja fantastisch!«erwiderte Laurie spöttisch.»Müssen wir dann vielleicht auch alle gemeinsam beim Football die Punkte machen?«
David trat zurück und betrachtete seine Freundin aufmerksam. So etwas hatte er nicht erwartet. Ganz gewiß nicht von Laurie.
«Aber siehst du denn nicht ein…«, sagte Laurie, die sein Zögern für den Anfang eines Zweifels hielt,»du bist ein solcher Idealist, David. Du bist ganz scharf darauf, eine Gesellschaft zu schaffen, die voll ist von gleichen Menschen und großen Footballteams, dass du gar nichts anderes mehr siehst. Aber so ist das nun einmal nicht. Es wird immer Menschen geben, die nicht daran teilhaben wollen, und sie haben ein Recht darauf, dann auch wirklich nicht beizutreten. «David kniff die Augen zusammen.»Weißt du«, sagte er,»du bist nur dagegen, weil du nichts Besonderes mehr bist. Weil du nicht mehr die beste und beliebteste Schülerin der ganzen Klasse bist.«
«Das ist nicht wahr, und das weißt du genau!«gab Laurie heftig zurück.
«Ich glaube, es ist doch wahr«, beharrte David.»Und jetzt weißt du, dass wir anderen in der Klasse es längst satt haben, immer nur dich die richtigen Antworten geben zu hören. Immer warst du die Beste. Was ist das denn für ein Gefühl, wenn man es plötzlich nicht mehr ist?«
«Du bist wirklich dumm!«schrie Laurie ihn an. David nickte.»Also gut, wenn ich so dumm bin, warum suchst du dir dann nicht einen schlaueren Freund?«Er wandte sich ab und ging auf die Turnhalle zu. Laurie sah ihm nach. Verrückt! dachte sie.
Alles gerät aus den Fugen.
Nach allem, was Laurie hören konnte, musste die Versammlung ein Riesenerfolg sein. Sie verbrachte die Zeit im Redaktionsbüro. Das war der einzige Ort, der sie davor bewahrte, pausenlos von Schülern gefragt zu werden, warum sie nicht bei der Versammlung sei. Laurie wollte nicht zugeben, dass sie sich versteckte, doch es war so. So irrsinnig war diese ganze Angelegenheit inzwischen geworden. Man musste sich verstecken, wenn man nicht dazugehörte!
Laurie nahm einen Kugelschreiber und kaute nervös daran. Sie musste etwas tun.
Die Schülerzeitung musste etwas tun.
Einige Minuten später wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als jemand den Türknauf drehte. Laurie erschrak. War da jemand gekommen, um sie zu holen? Die Tür öffnete sich, und Alex kam im Takt der Musik, die aus seinen Kopfhörern strömte hereingetänzelt. Laurie ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken und atmete erleichtert auf.
Als Alex Laurie sah, lächelte er und nahm die Kopfhörer ab.»He, wie kommt es denn, dass du nicht bei der Truppe bist?«
Laurie schüttelte den Kopf.»So schlimm ist es ja nun noch nicht, Alex.«
Aber der grinste.»Meinst du? Wenn das so weitergeht, dann wird unsere Schule bald eine Art Kaserne sein.«»Ich finde das gar nicht spaßig«, antwortete Laurie.
Alex hob die Schultern und verzog das Gesicht.»Laurie, du musst endlich einmal begreifen, dass man gegen das Lächerliche einfach nichts tun kann.«»Gut, aber du meinst, dass die anderen so etwas wie Soldaten sind. Hast du dann keine Angst, dass du auch eingezogen wirst?«fragte Laurie.
Alex grinste.»Ich?«Dann fuhr er mit furchterregenden Karateschlägen durch die Luft.»Einer von denen soll mir kommen, dann nehme ich ihn auseinander wie Kung Fu!«Wieder öffnete sich die Tür, und diesmal kam Carl. Als er Laurie und Alex sah, lächelte er.»Das sieht ja fast so aus, als wäre ich hier in Anne Franks Dachkammer geraten«, sagte er.
«Die letzten der verkommenen Individuen«, antwortete Alex.
Carl nickte.»Das glaube ich auch. Ich komme gerade von der Versammlung.«»Und sie haben dich tatsächlich rausgelassen?«fragte Alex.»Ich musste zur Toilette«, antwortete Carl.»He, Mann«, sagte Alex.»Dann bist du hier aber ziemlich falsch.«
Carl grinste.»Von der Toilette aus bin ich hergekommen. Jeder Ort ist mir recht, wenn ich nur nicht wieder in diese Versammlung muss.«»Dann tritt in unseren Club ein«, meinte Laurie.»Vielleicht sollten wir uns einen Namen geben«, schlug Alex vor.
«Da es die Welle schon gibt, können wir vielleicht das Gekräusel sein.«»Was hältst du davon?«fragte Carl.»Von dem Namen Gekräusel?«»Nein, von der Welle.«.
«Ich meine, es wird höchste Zeit, dass wir die nächste Nummer unserer Schülerzeitung herausbringen.«»Entschuldige, wenn ich meine nicht immer sehr ernsthafte Meinung einbringe«, sagte Alex,»aber wir sollten uns damit sehr beeilen, bevor sich auch noch die übrigen Redakteure von dieser Welle fortschwemmen lassen.«»Dann sagt den anderen Bescheid«, sagte Laurie.»Am Sonntag um zwei Uhr haben wir eine Sondersitzung bei mir zu Hause. Und sorgt nach Möglichkeit dafür, dass nur solche kommen, die nicht zur Welle gehören.«
An diesem Abend war Laurie allein in ihrem Zimmer. Den ganzen Nachmittag war sie in Gedanken zu sehr mit der Welle beschäftigt gewesen, um an David zu denken.
Außerdem hatten sie sich auch früher schon gestritten. Aber schon anfangs der Woche hatte David sich mit ihr für diesen Abend verabredet, und jetzt war es bereits halb elf. Es war offensichtlich, dass er nicht kommen würde. Laurie konnte es noch immer nicht recht glauben: Sie gingen jetzt schon seit dem ersten High-School-Jahr miteinander, und jetzt sollte eine solche Kinderei wie die Welle sie trennen? — Aber die Welle war kein unbedeutender Kinderkram. Schon längst nicht mehr.
Mehrmals im Laufe des Abends war Mrs. Saunders gekommen, um zu fragen, ob sie darüber reden wollte, doch Laurie hatte abgelehnt. Ihre Mutter machte sich immer gleich so viel Sorgen, und das Problem war, dass es diesmal wirklich einen Grund zur Besorgnis gab. Laurie hatte an ihrem Schreibtisch gesessen und versucht, einen Artikel über die Welle für die Schülerzeitung zu schreiben, aber bisher war das Blatt Papier — abgesehen von ein paar Tränenflecken — immer noch leer. Jemand klopfte an die Tür, und Laurie fuhr sich schnell mit dem Handrücken über die Augen. Das war unsinnig. Wenn ihre Mutter jetzt hereinkam, sah sie ohnehin, dass Laurie geweint hatte.»Ich möchte jetzt nicht reden, Mom!«sagte sie.
Aber die Tür öffnete sich trotzdem.»Es ist nicht deine Mutter.«
«Dad?«Laurie war überrascht, ihren Vater zu sehen. Nicht etwa, dass sie sich ihm nicht nahe fühlte, aber anders als ihre Mutter mischte er sich für gewöhnlich nicht in ihre Probleme ein, falls die nicht irgend etwas mit Golf zu tun hatten.
«Darf ich hereinkommen?«fragte der Vater.»Ja, sicher, Dad!«Laurie lächelte ein wenig.»Vor allem angesichts der Tatsache, dass du schon drinnen bist. «Mr.
Saunders nickte.»Du weißt, ich mische mich ungern ein, Kleines, aber deine Mutter und ich machen uns wirklich Sorgen.«
«Hat sie dir gesagt, dass David mit mir Schluss gemacht hat?«fragte Laurie.