Ben nickte. Gewissermaßen minderte das, was diese beiden Schüler ihm sagten, seine Sorgen über die Welle. Wenn er so handelte, wie Christy ihm geraten hatte, und an die anfänglichen Ziele des Experiments zurückdachte, dann bestätigte das, was David und Laurie ausgesprochen hatten, dass die Welle ein voller Erfolg geworden war. Schließlich war sie ursprünglich dazu ausersehen gewesen, den Schülern zu zeigen, wie das Leben in Nazi-Deutschland ausgesehen haben mochte.
Und wenn daraus ein Bewusstsein für Angst und Gewalt entstanden war, dann war das ein überwältigender Erfolg. Ein fast zu großer Erfolg.
«Man kann sich nicht einmal unterhalten, ohne zu fürchten, dass man belauscht wird«, erklärte Laurie. Ben konnte nur abermals nicken. Er erinnerte sich an die Schüler in seinem eigenen Geschichtskurs, die hart über die Juden geurteilt hatten, weil die alle Drohungen der Nazis nicht ernstgenommen hätten, weil sie nicht aus ihren Häusern und Gettos geflohen waren, als die ersten Gerüchte über Konzentrationslager und Gaskammern sich ausbreiteten. Eigentlich war das ja selbstverständlich, dachte ROSS. Wie konnte denn irgendein vernünftiger Mensch an solcherlei Dinge glauben? Und wer hätte gedacht, dass wohlerzogene und freundliche Schüler einer High School zu einer faschistischen Gruppe mit dem Namen» Die Welle «werden könnten? War es eine Schwäche des Menschen, dass er die düsteren Seiten der Menschen nicht wahrhaben wollte? David riss ihn aus seinen Gedanken.»Heute habe ich Laurie wegen der Welle beinahe verletzt«, sagte er.»Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber ich weiß, dass es genau das ist, was auch über alle anderen gekommen ist, die zur Welle gehören.«»Sie müssen damit aufhören!«drängte Laurie.»Ich weiß«, antwortete Ben.»Und ich tue es auch.«
«Aber wie wollen Sie das anstellen, Mr. ROSS?«fragte David.
Ben wusste, dass er den beiden seinen Plan nicht offenbaren durfte. Es war wichtig, dass die Mitglieder der Welle für sich selbst entschieden, damit das Experiment zu einem vollen Erfolg wurde. Ben konnte sie nur mit Ergebnissen überzeugen. Wenn Laurie und David morgen in der Schule erzählten, Mr. ROSS wolle die Welle auflösen, dann würden die Schüler sich verraten fühlen. Vielleicht hörten sie dann auf, ohne den Grund dafür wirklich einzusehen. Oder, schlimmer noch: Vielleicht versuchten sie dann, gegen ihn anzukämpfen und die Welle über ihren ursprünglichen Zweck hinaus am Leben zu erhalten.»David und Laurie«, sagte er, «ihr habt selbst entdeckt, dass die anderen Mitglieder noch nichts gelernt haben. Ich verspreche euch, dass ich morgen versuchen werde, den anderen zu dieser Erkenntnis zu verhelfen. Aber ich muss es selbst und auf meine Art tun, und ich kann euch nur bitten, mir zu vertrauen. Könnt ihr das?«David und Laurie nickten unsicher, als Ben aufstand und sie zur Tür begleitete.»Es ist eigentlich viel zu spät für euch«, sagte er. Doch als sie gerade durch die Tür getreten waren, kam ihm noch ein Gedanke.»Hört mal, wisst ihr vielleicht zwei Schüler, die nie mit der Welle zu tun gehabt haben? Zwei Schüler, die den Mitgliedern der Welle nicht zu bekannt sind und die man nicht vermissen wird, wenn sie nicht zur Versammlung kommen?«
David dachte einen Augenblick nach. So seltsam das auch sein mochte, fast jeder, den er in der Schule kannte, war Mitglied der Welle geworden. Aber Laurie fielen zwei Schüler ein:»Alex Cooper und Carl Block aus der Redaktion!«
«Gut«, sagte Ben.»Und nun erwarte ich von euch, dass ihr morgen in den Unterricht geht, als wäre nichts geschehen. Sagt keinem, dass ihr heute abend mit mir gesprochen habt. Abgemacht?«
David nickte, doch Laurie sah besorgt aus.»Ich weiß nicht, Mr. ROSS.«
Aber Ben unterbrach sie.»Laurie, es ist sehr wichtig, dass wir es so halten. Ihr müsst mir vertrauen. Okay?«Zögernd stimmte Laurie zu. Ben verabschiedete sie noch einmal, und die beiden traten in die Dunkelheit hinaus.
Kapitel 16
Am nächsten Morgen musste Ben sich im Büro des Direktors mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn tupfen. Hinter dem Tisch saß Direktor Owens, der gerade mit der Faust auf die Platte geschlagen hatte.»Verdammt noch mal, Ben! Ihr Experiment kümmert mich überhaupt nicht. Ich höre nur, dass die Lehrer sich beschweren, ich werde alle fünf Minuten von Eltern angerufen, die wissen wollen, was hier eigentlich los ist, was wir mit ihren Kindern anstellen. Meinen Sie vielleicht, ich kann denen sagen, dass es sich um ein Experiment handelt? Mein Gott, Mann!
Sie wissen doch, dass vergangene Woche ein Junge zusammengeschlagen worden ist. Gestern war sein Rabbi hier. Der Mann hat zwei Jahre in Auschwitz zugebracht.
Glauben Sie vielleicht, dass er sich auch nur einen Deut um Ihr Experiment schert?«
Ben richtete sich auf.»Mr. Owens, ich verstehe, dass Sie unter Druck stehen. Ich weiß, dass die Welle zu weit gegangen ist. Ich…«, Ben atmete tief,»ich begreife auch, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ein Geschichtskurs ist kein wissenschaftliches Labor. Man darf nicht mit Menschen experimentieren. Besonders nicht mit Schülern, die gar nicht wissen, dass sie Bestandteil eines Experiments sind.
Aber vergessen wir doch einmal für einen Augenblick, dass ich einen Fehler begangen habe und dass dieser Fehler Konsequenzen nach sich geführt hat. Sehen wir doch wenigstens jetzt und hier den Tatsachen ins Gesicht: Im Augenblick haben wir hier zweihundert Schüler, denen die Welle etwas Großartiges bedeutet. Sie hören auf mich. Ich brauche nur noch diesen einen Tag, und ich kann ihnen eine Lektion erteilen, die sie niemals vergessen werden.«
Direktor Owens sah ihn skeptisch an.»Und was soll ich Eltern und Lehrern inzwischen sagen?«Ben fuhr sich wieder mit dem Taschentuch über die Stirn. Er wusste, dass er sich wie ein Spieler verhielt. Aber welche Wahl blieb ihm denn? Er hatte die Schüler in diese Sache hineingezogen, und er musste ihnen jetzt heraushelfen.»Sagen Sie ihnen, dass heute abend alles vorbei sein wird.«
Direktor Owens hob eine Augenbraue.»Und wie wollen sie das tun?«
Ben brauchte nicht lange, um seinen Plan zu erklären. Jenseits des Schreibtisches klopfte Direktor Owens seine Pfeife aus und dachte darüber nach. Ein langes und unbehagliches Schweigen folgte. Endlich sagte der Direktor:»Ben, ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ihre Geschichte mit der Welle hat das Prestige unserer Schule nicht gerade verbessert, und das ist mir unangenehm. Ich gebe Ihnen noch den heutigen Tag, aber ich warne Sie: Wenn das, was Sie vorhaben, nicht funktioniert, werde ich Sie bitten müssen, Ihren Rücktritt zu erklären.«
Ben nickte.»Das verstehe ich«, sagte er. Direktor Owens stand auf und reichte ihm die Hand.»Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt. Sie sind ein ausgezeichneter
Lehrer, den wir sehr ungern verlieren würden.«
Draußen auf dem Flur blieb Ben keine Zeit, sich mit dem aufzuhalten, was Direktor Owens gerade gesagt hatte. Er musste sofort Alex Cooper und Carl Block finden, und er musste schnell handeln.
Im Geschichtsunterricht dieses Tages wartete Ben, bis die Schüler neben ihren Plätzen standen, dann sagte er:»Ich habe euch eine besondere Mitteilung zur Welle zu machen. Heute um fünf Uhr findet eine Versammlung in der Aula statt. Nur Mitglieder der Welle sind zugelassen.«
David lächelte und zwinkerte Laune zu.»Der Grund für diese Versammlung ist folgender«, fuhr Mr. ROSS fort.»Die Welle ist nicht nur ein Unterrichtsexperiment.
Sie ist viel mehr. Ohne dass ihr es wusstet, haben in der vergangenen Woche Lehrer wie ich im ganzen Land eine Jugendbrigade rekrutiert und herangebildet, um dem Rest unseres Volkes zu zeigen, wie man eine bessere Gesellschaft begründen kann.
Wie ihr wisst, hat dieses Land ein Jahrzehnt mit ständig wachsenden Inflationsraten hinter sich, die Wirtschaft ist schwächer geworden, die Arbeitslosigkeit ist chronisch, und die Verbrechen häufen sich. Nie zuvor war es um die Moral der Vereinigten Staaten so schlecht bestellt. Wenn dieser Trend nicht aufgehalten wird, dann wird nach der Meinung einer wachsenden Zahl von Menschen, zu denen auch die Begründer der Welle gehören, unser Land zum Untergang verurteilt sein.«