«Ich weiß, dass dieser Film viele von euch tief erregt hat«, sagte Ben.»Aber ich habe euch diesen Film heute gerade deswegen gezeigt, weil ich euer Gefühl ansprechen wollte. Ich möchte, dass ihr über das nachdenkt, was ihr gesehen habt und was ich euch erzählt habe. Hat noch jemand Fragen?«Amy Smith hob sofort die Hand.
«Ja, Amy?«
«Waren alle Deutschen Nazis?«fragte sie. Ben schüttelte den Kopf.»Nein.
Beispielsweise gehörten weniger als zehn Prozent zur Nazipartei.«»Warum hat dann keiner versucht, die Nazis an dem zu hindern, was sie taten?«
«Das weiß ich nicht genau, Amy. Ich kann nur vermuten, dass sie Angst hatten. Die Nazis waren vielleicht eine Minderheit, aber sie waren eine gut organisierte, bewaffnete und gefährliche Minderheit. Man darf nicht vergessen, dass die übrige Bevölkerung unorganisiert, unbewaffnet und verängstigt war. Alle hatten sie die Inflationszeit erlebt, die ihr Land förmlich ruiniert hatte. Vielleicht hofften manche, die Nazis könnten wieder Ordnung in die Gesellschaft bringen. Jedenfalls haben die meisten Deutschen nach dem Kriege behauptet, sie hätten von den Grausamkeiten nichts gewusst. «Ein schwarzhaariger Junge namens Eric hob die Hand.»Das ist doch Unsinn!«rief er.»Wie kann man denn Millionen von Menschen abschlachten, ohne dass jemand etwas davon weiß?«
«Ja«, stimmte ihm der Junge zu, der vor der Stunde einen Streit mit Robert Billings angefangen hatte.»Das kann überhaupt nicht stimmen!«
Für Ben war es ganz offensichtlich, dass der Film den größten Teil der Klasse angesprochen hatte, und das freute ihn. Es war gut, dass sie sich über irgend etwas einmal Gedanken machten.»Nun ja«, sagte er zu Eric und Brad,»ich kann euch nur sagen, dass die meisten Deutschen nach dem Krieg behauptet haben, sie hätten von den Konzentrationslagern und den Massenmorden nichts gewusst.«
Jetzt hob Laurie Saunders die Hand.»Aber Eric hat recht«, sagte sie.»Wie konnten sich denn die Deutschen ganz ruhig verhalten, während die Nazis massenweise Menschen abschlachteten, und dann behaupten, sie hätten von alledem nichts gewusst? Wie konnten sie das tun? Und wie konnten sie es auch nur behaupten?«
«Auch dazu kann ich nur sagen, dass die Nazis sehr straff organisiert waren und dass sie gefürchtet wurden. Das Verhalten der übrigen deutschen Bevölkerung ist ein Rätseclass="underline" Warum haben sie nicht versucht, das Geschehen aufzuhalten? Wie konnten sie behaupten, von alledem nichts gewusst zu haben? Die Antworten auf diese Fragen kennen wir nicht.«
Eric hob abermals die Hand:»Ich kann jedenfalls nur sagen, dass ich nie zulassen würde, dass eine kleine Minderheit die Mehrheit bevormundet.«»Stimmt«, bestätigte Brad.»Mich brächten ein paar Nazis nicht dazu, so zu tun, als würde ich nichts mehr hören und sehen!«
Andere Hände waren noch erhoben und kündigten Fragen an, als die Glocke läutete und die Schüler aus dem Klassenraum drängten.
David Collins stand auf. Sein Magen knurrte. Am Morgen war er zu spät aufgestanden und hatte sein übliches dreigängiges Frühstück ausfallen lassen müssen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Obgleich er von dem Film, den Mister ROSS vorgeführt hatte, durchaus beeindruckt war, konnte er im Augenblick nur daran denken, dass jetzt erst einmal Zeit zum Mittagessen war. Er schaute zu seiner Freundin Laurie Saunders hinüber, die noch an ihrem Platz saß.
«Komm, Laurie!«drängte er.»Wir müssen sehen, dass wir schnell in die Cafeteria kommen. Du weißt doch, wie lang sonst die Schlange wird. «Aber Laurie winkte ihm, er solle schon vorgehen.»Ich komme später nach.«
David zögerte. Er schwankte ein Weilchen, ob er auf seine Freundin warten oder erst einmal seinen hungrigen Magen füllen sollte. Der Magen siegte, und David verließ die Klasse.
Nachdem er fort war, stand Laurie auf und sah ihren Lehrer an. Es waren nur noch wenige Schüler im Raum. Abgesehen von Robert Billings, der gerade aus seinem Schlaf erwachte, waren es vor allem diejenigen, die der Film am stärksten beunruhigt hatte.»Ich kann nicht glauben, dass alle Nazis so grausam gewesen sein sollen«, sagte Laurie zu ihrem Lehrer.»Ich glaube nicht, dass überhaupt jemand so grausam sein kann. «Ben nickte.»Nach dem Kriege haben viele Nazis versucht, ihr Verhalten damit zu erklären, dass sie nur Befehle ausgeführt hätten und dass jede Weigerung ihr eigenes Leben gefährdet hätte.«
Laurie schüttelte den Kopf.»Das ist keine Entschuldigung. Sie hätten doch fortlaufen können. Sie hätten sich wehren können. Sie hatten doch ihre eigenen Augen und ihren eigenen Verstand. Sie konnten selber denken. Niemand befolgt doch blind solche Befehle!«»Genau das haben sie aber getan«, wiederholte Ben. Abermals schüttelte Laurie den Kopf.»Das ist Wahnsinn!«sagte sie.»Das ist vollendeter Wahnsinn!«Ben konnte nur zustimmend nicken.
Robert Billings versuchte, sich an Bens Tisch vorbeizudrücken.»Robert«, sagte Ben, «warte bitte einen Augenblick.«
Der Junge blieb stehen und konnte dem Lehrer nicht in die Augen sehen.
«Bekommst du zu Hause nicht genug Schlaf?«fragte Ben. Der Junge nickte.
Ben seufzte. Seit Monaten versuchte er, mit diesem Jungen zu reden. Es gefiel ihm nicht, dass die anderen ihn verspotteten, und es ärgerte ihn, dass Robert nicht wenigstens versuchte, wirklich zur Klasse zu gehören.»Robert«, sagte sein Lehrer streng,»wenn du dich nicht dazu überwinden kannst, im Unterricht mitzuarbeiten, werde ich dir nicht helfen können. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, wirst du mit Sicherheit nicht versetzt werden. «Robert sah flüchtig seinen Lehrer an und wandte dann wieder den Blick ab.
«Hast du mir nichts zu sagen?«fragte Ben. Robert hob die Schultern.»Das ist mir egal«, sagte er.»Wie meinst du das? Es ist dir egal?«fragte Ben. Robert ging ein paar Schritte auf die Tür zu. Ben sah, dass ihm die Fragen unangenehm waren.
«Robert?«Der Junge blieb stehen, konnte seinen Lehrer aber noch immer nicht anschauen.»Es nützt ja doch nichts«, murmelte er.
Ben fragte sich, was er sagen sollte. Roberts Fall war nicht leicht: Er stand ganz im Schatten eines älteren Bruders, der ein wahrer Musterschüler und der Star der Schule gewesen war. Jeff Billings war immer der Sprecher der anderen gewesen.
Jetzt studierte er Medizin. Als Schüler hatte er in allen Fächern die besten Noten gehabt, und im Grunde war er ganz genau der Bursche gewesen, den Ben in seiner eigenen Schulzeit nicht hätte ausstehen können.
Da Robert einsah, dass er es mit seinem großen Bruder niemals aufnehmen konnte, hatte er beschlossen, es gar nicht erst zu versuchen.
«Hör zu«, sagte Ben.»Niemand erwartet von dir, dass du ein zweiter Jeff Billings sein sollst!«Robert sah Ben flüchtig an und fing dann an, an seinem Daumennagel zu kauen.
«Wir erwarten von dir nur, dass du dir ein wenig Mühe gibst.«
«Ich muss jetzt gehen«, sagte Robert und schaute zu Boden.
«Sport finde ich gar nicht so wichtig, Robert«, sagte Ben, doch der Junge ging schon langsam zur Tür.
Kapitel 3
David Collins saß auf dem kleinen Platz vor der Cafeteria. Als Laurie kam, hatte er schon sein halbes Mittagessen hinuntergeschlungen und fing an, sich wieder wie ein normaler Mensch zu fühlen. Er sah zu, wie Laurie ihr Tablett neben das seine stellte und bemerkte zugleich, dass auch Robert Billings auf die Tische im Freien zustrebte.