Vielleicht waren die beiden in ein medizinisches Problem vertieft, dachte Conway, oder — was ebenso wahrscheinlich war — sie hatten sich gerade gestritten und ignorierten einander deshalb. Diagnostiker waren eigenartige Leute. Man konnte nicht gerade sagen, daß sie von Haus aus verrückt waren, aber ihr Beruf zwang ihnen eine Art von Verrücktheit geradezu auf.
An jeder Korridorkreuzung hatten Lautsprecher ein unverständliches, fremdes Kauderwelsch ausgestrahlt, das er im Vorübergehen nur halb gehört hatte, aber als die Lautsprecher plötzlich auf Terraenglisch umschalteten und Conway seinen eigenen Namen hörte, blieb er überrascht stehen.
„… sofort zu Einlaßschleuse zwölf“, wiederholte die Stimme monoton. „Klassifikation VTXM-23. Doktor Conway, bitte gehen Sie zu Einlaßschleuse zwölf. Klassifikation VTXM-23…“
Conways erster Gedanke war, daß sie unmöglich ihn meinen konnten. Das sah ja aus, als ziehe man ihn zu einem Fall heran — sogar einem großen, denn die Zahl 23 nach der Klassifikation bezog sich auf die Anzahl der zu behandelnden Patienten. Und diese Klassifikation, VTXM, war ihm völlig neu. Conway wußte natürlich, was die Buchstaben bedeuteten, aber er hatte nie gedacht, daß sie in dieser Kombination existieren konnten. Es mußte sich um irgendeine telepathische Spezies handeln — das V an erster Stelle der Klassifikation sagt aus, daß Telepathie ihr wichtigstes Attribut war und ihr Körperbau nur von sekundärer Bedeutung — ferner ging aus der Klassifikation hervor, daß diese Spezies Strahlungsenergie direkt umzuwandeln vermochte und gewöhnlich als eng zusammenhängende Gruppe, oder, wie der Psychologe das nannte, „Gestalt“, existierte. Während er noch überlegte, ob er einem derartigen Fall gewachsen war, hatte er sich bereits umgedreht und eilte auf Schleuse zwölf zu.
Seine Patienten erwarteten ihn in der Schleuse. Sie befanden sich in einem kleinen Metallkasten, der ringsum mit Bleibarren bedeckt war und bereits auf einem Rollwagen ruhte. Der Wärter unterrichtete Conway kurz davon, daß die Wesen sich „das Telfi“ nannten und daß eine erste Diagnose es geraten erscheinen lasse, sie in den Strahlungsoperationssaal zu bringen, der bereits für ihn vorbereitet wurde. Infolge der geringen Größe seiner Patienten könne er im übrigen dadurch Zeit einsparen, indem er mit ihnen zum Trainingssaal gehe und sie vor der Tür abstelle, während er sein Telfi-Trainingsband nahm.
Conway bedankte sich mit einem Nicken, sprang auf den Wagen und setzte ihn in Bewegung, wobei er bemüht war, den Eindruck zu erwecken, daß er so etwas jeden Tag tue.
Als Conway den Trainingsraum betrat, fand er dort einen Monitor vor. Conway hatte für das Monitor-Korps nicht viel übrig. Er wußte natürlich, daß es Leute gab, die manchmal durchdrehten und daß es dann jemand geben mußte, der das Nötige unternahm, um für die Erhaltung des Friedens zu sorgen. Aber er verabscheute jede Art von Gewaltanwendung so sehr, daß er es einfach nicht über sich brachte, die Menschen, die diese notwendigen Schritte unternahmen, auch leiden zu können.
Und was hatte ein Monitor außerdem in einem Hospital zu suchen?
Die Gestalt im dunkelgrünen Overall wandte sich um, als er eintrat, und Conway bekam seinen zweiten Schock. Der Monitor trug nicht nur die Rangabzeichen eines Majors auf der Schulter, sondern auch den Äskulapstab des Arztes!
„Mein Name ist O’Mara“, sagte der Major mit angenehmer Stimme. „Ich bin Chefpsychologe dieses Irrenhauses. Und Sie, nehme ich an, sind Dr. Conway.“
Er lächelte.
Conway zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, wußte aber, daß es gezwungen aussah und daß der andere dies wußte.
„Sie wollen das Telfiband“, sagte O’Mara eine Spur weniger freundlich. „Nun, Doktor, da haben Sie sich diesmal ja etwas Hübsches ausgesucht. Lassen Sie es nur schleunigst wieder löschen, wenn Sie mit dem Fall fertig sind — Sie können mir glauben, das wollen Sie bestimmt nicht behalten. Geben Sie mir hier Ihren Daumenabdruck, und setzen Sie sich dann dort hinüber.“
Während die Elektroden an die Schläfenkontakte des Trainers angeschlossen wurden, war Conway bemüht, eine starre, undurchdringliche Miene zu bewahren und nicht jedesmal zusammenzuzucken, wenn die Hände des Majors ihn berührten.
O’Maras Haar war kurz geschnitten und von metallischgrauer Farbe, und auch seine Augen erinnerten an blauen Stahl.
„So, das wär’s“, sagte O’Mara, als alles vorüber war. „Aber ich glaube, Doktor, daß wir beide einen kleinen Schwatz halten sollten; nennen wir es ruhig ein Orientierungsgespräch. Aber nicht jetzt. Sie haben zu tun — nachher.“
Conway spürte, wie die stahlblauen Augen sich in seinen Rücken bohrten, als er hinausging.
Er hätte sich jetzt bemühen müssen, seinen Geist zu entspannen, damit das neu eingeprägte Wissen sich „setzen“ konnte, aber Conway konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, daß ein Monitor ein Mitglied von hohem Rang des permanenten Hospitalstabes war — und Arzt obendrein. Wie ließen sich die beiden Berufe vereinen? Conway dachte an das Armband, das er trug, das Armband mit dem schwarzroten tralthanischen Kreis, der flammenden Sonne der chloratmenden Illensa und den Stab mit der Schlange von der Erde — die geehrten Symbole der Medizin der drei Hauptrassen der galaktischen Union. Und da war jetzt dieser Dr. O’Mara, dessen Kragenspiegel behauptete, daß er ein Heiler sei und dessen Epauletten sagten, daß er etwas anderes war.
Eines stand fest: Conway würde erst dann wieder ganz beruhigt sein, wenn er herausgefunden hatte, weshalb der Chefpsychologe des Hospitals ein Monitor war.
8
Das war die erste Erfahrung, die Conway mit einem Physiologieband einer fremden Rasse machte, und er konstatierte voll Interesse, daß er plötzlich in geistiger Hinsicht „doppelt zu sehen“ begann — ein sicheres Zeichen dafür, daß das Band „saß“. Als er den OP-Saal erreichte, fühlte er sich wie zwei Menschen in einem — ein Erdmensch namens Conway und die große, aus fünfhundert Einheiten bestehende Telfigestalt, die sich gebildet hatte, um eine komplette Aufzeichnung allen bekannten Wissens über die Physiologie dieser Rasse zu ermöglichen. Das war der einzige Nachteil — wenn man es als Nachteil ansehen wollte — des Trainingsbandsystems. Dem Geist der Person, die sich dem „Training“ unterzog, wurde nämlich nicht nur Wissen eingeprägt, sondern es übertrugen sich gleichzeitig auch die Persönlichkeiten der Wesen, die dieses Wissen besessen hatten. Kein Wunder also, daß die Diagnostiker, die bis zu zehn verschiedene Bänder aufgenommen hatten, manchmal etwas eigenartig waren.
Ein Diagnostiker hatte die wichtigste Aufgabe im Hospital, dachte Conway, als er den Strahlungspanzer anlegte und seine Patienten für die Voruntersuchung vorbereitete. Er hatte manchmal in Augenblicken einer hohen Meinung von sich selbst daran gedacht, einer zu werden. Ihr Hauptzweck war, Grundlagenarbeit in der xenologischen Medizin und Chirurgie zu leisten und sich um Fälle zu kümmern, für die es keine Physiologiebänder gab.
Sich einfacher, alltäglicher Verletzungen und Krankheiten anzunehmen, lag weit unter ihrer Würde. Um zu rechtfertigen, daß ein Diagnostiker sich einen Patienten ansah, mußte dieser Patient einzigartig, hoffnungslos und wenigstens zu drei Viertel tot sein. Aber wenn einer einen Fall übernahm, war der Patient so gut wie kuriert — Diagnostiker waren dafür bekannt, daß sie mit beinahe monoton wirkender Regelmäßigkeit Wunder verrichteten.