„Ich tue Ihnen nichts zuleide“, sagte Conway langsam und deutlich. Er trat näher an den Patienten heran. „Aber ich muß Sie berühren. Bitte glauben Sie mir, ich meine es gut.“ Er sah Prilicla fragend an.
Der GNLO sagte: „Furcht und… und Hilflosigkeit. Und ein stoisches Hinnehmen seiner Lage, verbunden mit Drohungen… nein, Warnungen. Offenbar glaubt er Ihnen, versucht aber, Sie vor etwas zu warnen.“
Das klang vielversprechender, dachte Conway. Der Fremde warnte ihn, aber es machte ihm nichts aus, wenn er, Conway, ihn berührte. Er trat näher und berührte das Wesen vorsichtig mit der behandschuhten Hand an einer der noch nicht von dem Ausschlag befallenen Hautstellen.
Er zuckte zusammen, so heftig war der Schlag, der seinen Arm wegfegte. Er fuhr hastig zurück, rieb sich den Arm und schaltete den Translator ab, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Nach einer respektvollen Pause meinte der GNLO:
„Wir haben jetzt eine sehr wichtige Beobachtung gemacht, Dr. Conway. Die Gefühle des Patienten gegenüber Ihnen sind trotz der physischen Reaktion genau die gleichen wie sie vor der Berührung waren.“
„Na und?“ fragte Conway gereizt.
„Also muß es sich um eine unwillkürliche Reaktion handeln.“
Conway überdachte das eine Weile und meinte dann:
„Das bedeutet, daß wir kein allgemeines Anästhetikum verwenden können, selbst wenn wir eines hätten, denn das Herz und die Lunge haben auch Reflexmuskeln. Das kompliziert die Dinge wieder. Wir können ihn also nicht in Narkose versetzen, und freiwillig läßt er sich auch nicht behandeln.“ Er trat an das Schaltbrett und drückte einen Knopf. Die Klammern, die das Netz hielten, öffneten sich, und das Netz selbst wurde von einer Greifzange weggezogen. Dann fuhr Conway fort: „Er verletzt sich immer wieder an diesem Netz. Sie sehen — hier hat er sich beinahe wieder einen Tentakel abgerissen.“
Prilicla protestierte gegen die Entfernung des Netzes und meinte, wenn der Patient sich frei bewegen könne, sei die Wahrscheinlichkeit noch größer, daß er sich selbst verletze. Aber Conway erklärte, in seiner augenblicklichen Lage — also mit dem Schwanz im Munde und den Bauch nach außen gekehrt — könne sich der Patient nur sehr wenig bewegen. Wenn Conway darüber nachdachte, muß er zugeben, daß diese Lage die ideale Verteidigungsstellung für dieses Wesen war. Es erinnerte ihn daran, wie auf der Erde Katzen beim Kampf auf der Seite zu liegen pflegen, um alle vier Pfoten einsetzen zu können. Und das hier war eine zehnbeinige Katze, die sich nach allen Richtungen gleichzeitig verteidigen konnte.
Aber warum sollte das Wesen eigentlich diese Verteidigungsstellung einnehmen, wo es doch gerade in seinem jetzigen Zustand so dringend Hilfe brauchte?
Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Jetzt wußte er die Antwort. Oder, verbesserte er sich vorsichtig, wenigstens neunzig Prozent der Antwort.
Ihre Vermutungen über diesen Fall waren von Anfang an alle falsch gewesen. Seine neue Theorie beruhte auf der Tatsache, daß sie von einer weiteren falschen Voraussetzung ausgegangen waren, und zwar einer Voraussetzung grundsätzlicher Art. Unter diesen Umständen ließen sich die Feindseligkeit des Patienten, seine eigenartige Körperhaltung und sein geistiger Zustand erklären.
Gleichzeitig ließ sich daraus ein Schluß auf die einzig mögliche Therapie ziehen. Und was das Wichtigste von allem war — Conway durfte jetzt annehmen, daß der Patient vielleicht gar nicht zu einer so feindseligen und bösartigen Rasse gehörte, wie er, Conway, vermutet hatte.
Die einzige Schwierigkeit an der neuen Theorie war, daß sie auch falsch sein konnte.
Conway schaltete den Translator ein. Er wußte schon, ehe er zu sprechen begann, wie die Reaktion des Patienten sein würde, und so war es wahrscheinlich ein Akt willkürlicher Grausamkeit, die Worte überhaupt auszusprechen, aber er mußte seine Theorie noch einer Prüfung unterziehen, um sich selbst klar zu werden. Er sagte:
„Keine Sorge, Junge, du bist bald wieder so wie du warst…“
Die Reaktion war so heftig, daß Dr. Prilicla, dessen empathische Fähigkeiten ihn alles das mitempfinden ließen, was der Patient empfand, die Station verlassen mußte.
Und erst jetzt traf Conway seine endgültige Entscheidung.
Während der drei darauffolgenden Tage besuchte Conway die Station regelmäßig. Er machte sich sorgfältig Notizen über das Wachstum der dicken, faserigen Kruste, die jetzt zwei Drittel des Körpers des Patienten bedeckte. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der Wachstumsprozeß sich beschleunigte und die Kruste dicker wurde. Conway schickte Proben in die pathologische Abteilung, die antwortete, daß der Patient anscheinend an einer eigenartigen und besonders bösartigen Form von Hautkrebs litte und gleichzeitig die Frage stellte, ob eine Strahlentherapie oder chirurgische Entfernung möglich sei. Conway erwiderte, beides sei seiner Meinung nach ohne ernste Gefährdung des Patienten nicht möglich.
Seit der ersten Untersuchung war Conway Dr. Mannon bewußt aus dem Wege gegangen. Er wollte sich nicht mit seinem alten Freund über den Fall unterhalten, weil Mannon zu klug war, um sich mit irgendwelchen leeren Phrasen abspeisen zu lassen, und die Wahrheit konnte Conway ihm nicht sagen.
Als er am fünften Tag der Station seine zweite Morgenvisite abstattete, erwartete ihn Dr. Mannon dort. Er erbat ordnungsgemäß Conways Genehmigung, sich den Patienten ansehen zu dürfen. Aber als diese Formalität erfüllt war, fügte er hinzu: „Jetzt hören Sie mal zu, Sie junger Bursche. Ich hab’s jetzt langsam satt, daß Sie in die Luft starren oder auf Ihre Stiefelspitzen, wenn ich in Ihre Nähe komme — wenn ich nicht die Haut eines Tralthaners hätte, wäre ich beleidigt. Ich weiß natürlich, daß neu ernannte Seniorärzte ihre Pflichten die ersten paar Wochen sehr ernst nehmen, aber wie Sie sich in den letzten Tagen benommen haben, war ja geradezu rüpelhaft.“
Er hob die Hand, ehe Conway etwas sagen konnte, und fuhr fort: „Ja, ist schon gut — jetzt wollen wir zur Sache kommen. Ich habe mit Prilicla und den Leuten in der Pathologischen gesprochen. Sie sagen mir, die Wucherung bedeckt jetzt den ganzen Körper und sei für Röntgenstrahlen von erträglicher Intensität völlig undurchsichtig. Somit kann man über die Lage und das Wirken der inneren Organe des Patienten nur Vermutungen anstellen. Und unter Narkose kann man das Zeug nicht wegschneiden, weil eine Lähmung der Gliedmaßen leicht auch zu einem Schaden am Herz führen könnte. Andererseits ist eine Operation unmöglich, solange diese Glieder herumschlagen. Gleichzeitig wird der Patient immer schwächer, und dieser Zustand verschlimmert sich, solange wir ihm keine Nahrung geben können, und das wiederum geht erst dann, wenn man seinen Mund befreien kann. Und um die Angelegenheit noch weiter zu komplizieren, zeigen Ihre letzten Proben, daß der Ausschlag sich schnell nach innen fortsetzt, und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Mund und Schwanz permanent zusammenwachsen, wenn die Operation nicht schnell vorgenommen wird. Habe ich die Lage richtig dargestellt?“
Conway nickte.
Mannon atmete tief und fuhr dann fort:
„Wie wäre es, wenn Sie die Glieder amputieren und den Ausschlag vom Kopf und vom Schwanz entfernen würden und die Oberhaut durch eine geeignete synthetische Substanz ersetzen? Wenn der Patient einmal wieder Nahrung aufnehmen kann, kommt er wahrscheinlich schnell genug zu Kräften, daß man diese Prozedur auch an seinem übrigen Körper durchführen kann. Ich gebe zu, daß das ein recht drastischer Vorschlag ist. Aber unter den vorliegenden Umständen scheint mir das der einzige Weg zu sein, das Leben des Patienten zu retten. Und es besteht immer die Möglichkeit, dem Wesen künstliche Glieder zu geben.“
„Nein!“ sagte Conway heftig. Wenn seine Theorie über den Patienten stimmte, dann würde eine Operation in diesem Stadium katastrophale Folgen haben. Und wenn nicht, wenn also der Patient ein Wesen von der Art war, wie er zu sein schien — bösartig, feindselig und gefährlich — und wenn seine Freunde kamen, um nach ihm zu sehen…