Grunt und ich ließen unsere Kaiila weitergehen. Hinter uns hörte ich das rothaarige Mädchen würgen; sie war zu dicht an dem Toten vorbeigekommen.
»Dort vorn!« rief Grunt.
»Ich seh’s«, bestätigte ich.
»Wollen sie sich denn gar nicht verteidigen?« fragte er.
»Schnell!« brüllte ich und trieb meine Kaiila an.
Wir galoppierten los. Inzwischen befanden wir uns etwa eine halbe Pasang jenseits der zerstörten Wagenreihe und näherten uns anderen Wagen, die ohne erkennbare Ordnung in der Gegend herumstanden. Es handelte sich um die Fahrzeuge, nach denen ich vorhin vergeblich gesucht hatte, die kleineren eckigen Wagen, die im Zug der Söldner gefahren waren. Sie schienen ebenfalls zerstört zu sein. Zwei lagen auf der Seite, andere waren ausgebrannt oder schwer beschädigt. Sämtlichen Wagen fehlten die Tharlariongespanne. Aus der Distanz von den anderen Fahrzeugen und der Verteilung im Gras schloß ich, daß sie die Formation verlassen hatten und davongerast waren. Die Kutscher hatten nicht mehr die Zeit oder die Geistesgegenwart gehabt, einen Wehrkreis zu bilden.
In der Nähe von drei Wagen dieser Art hatten wir eine kleine Gruppe von Gestalten entdeckt, fünfzehn bis zwanzig Männer. Einer stand ein Stück vor den anderen, und es war dieser Mann, der am gefährdetsten war, denn vor ihm stand drohend eine riesige braune Gestalt, die sich anscheinend ganz in der Nähe aus dem Gras erhoben hatte. Ich wußte nicht, ob die Männer das Wesen aufgescheucht hatten oder ob es sich heimlich im Schutz des Grases angeschlichen hatte. Jedenfalls hielt der Mann eine Schaufel in der Hand, doch er hatte sie nicht abwehrend gehoben. Seine Haltung wirkte nicht mutig, sondern eher phlegmatisch. War es möglich, daß er die Gefahr, in der er schwebte, nicht begriff?
»Schnell!« spornte ich meine Kaiila an.
Grunts Reittier donnerte neben dem meinen dahin. »Der Mann ist verrückt!« rief mein Begleiter.
Das angreifende Ungeheuer schien ebenfalls verwirrt und unsicher zu sein und starrte den Mann untätig an.
Offenbar hatte es noch keinen Menschen erlebt, der so verständnislos reagierte.
Die Männer trugen graue Kleidung, lange, offene Büßerhemden, die bis auf die Waden frei herabhingen.
Plötzlich fuhr das Ungeheuer zu uns herum. Gleich darauf verhielt ich meine Kaiila, die auf die Hinterhand stieg, zwischen dem Monstrum und dem Mann.
Das Ungeheuer fauchte und machte einen Schritt rückwärts. Es war weder Kog noch Sardak.
»Zurück!« warnte ich die Männer.
Gehorsam traten sie zurück, einschließlich des vorn stehenden Mannes.
Ich ließ das Ungeheuer nicht mehr aus den Augen. Es schien schwer verwundet zu sein und hatte viel Blut verloren. Wahrscheinlich war es bewußtlos geworden und als tot in Ruhe gelassen worden. Sicher würden sich die roten Wilden an einem solchen Monstrum nicht zu schaffen machen, denn sie kannten diese Wesen nicht. Wahrscheinlich galt es bei ihnen dasselbe wie ein Sleen oder eine Urt.
Fauchend trat das Monstrum einen Schritt vor.
»Es wird gleich angreifen. Ich kann es töten.« Grunt hob die Armbrust.
»Nicht schießen!« sagte ich.
Grunt schoß nicht.
»Schau es dir doch an!« sagte ich.
Das Ungeheuer musterte zuerst Grunt, dann mich. Dann entblößte es eine Doppelreihe spitzer weißer Zähne.
»Es bekundet uns seine Verachtung«, sagte ich.
»Verachtung?« fragte Grunt verständnislos.
»Ja, denn er ist nicht so bewaffnet wie wir.«
»Es ist doch ein Ungeheuer!« sagte Grunt, senkte aber die Waffe.
»Was wir hier vor uns sehen, ist ein Kur«, informierte ich ihn.
Fauchend wich das Ungeheuer zurück. Als es einige Fuß Abstand gewonnen hatte, machte es kehrt, ließ sich auf alle vier Pfoten sinken und huschte durch das Gras. Es blickte sich nicht um.
Ich ritt mit der Kaiila zu der Stelle, wo das Monstrum gestanden hatte. Dort schaute ich mir die Spuren an, ehe ich schließlich zu Grunt und den anderen zurückkehrte.
»Du hättest mich nicht daran hindern sollen, es zu töten«, sagte Grunt.
»Mag sein.«
»Warum sollte ich nicht schießen?«
»Das hat mit gewissen Ehrenregeln zu tun«, sagte ich.
»Wer bist du eigentlich?«
»Einer, dem solche Ehrenvorstellungen vertraut waren und der sie nie ganz vergessen hat.«
Ich zog meine Kaiila herum und näherte mich dem Mann, der von dem Ungeheuer direkt bedroht worden war.
»Ich hatte schon Angst, es könnte zu Gewalttätigkeiten kommen«, sagte er.
»Ich habe das Gras an der Stelle untersucht, an der sich das Untier aufrichtete«, sagte ich. »Es hatte sich unbemerkt angeschlichen. Es machte Jagd auf euch.«
»Ich heiße Kürbis«, sagte der Mann. »Friede, Licht, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Güte seien mit dir.«
»Es wollte euch reißen«, sagte ich, und die Kaiila bewegte sich unruhig unter mir.
»Güte sei mit dir«, sagte der Mann.
»War dir die Gefahr nicht bewußt? Du hättest getötet werden können!«
»Welch ein Glück, daß du eingegriffen hast!« bemerkte er.
»War es Mut«, fragte ich, »der dich veranlaßte, dich dem Ungeheuer so kühn zu stellen?«
»Was ist schon Leben? Was der Tod?« fragte er. »Beide sind unwichtig.«
Verwirrt musterte ich den Burschen. Mein Blick wanderte schließlich auch zu den anderen, die hinter ihm standen. Sie waren in graue Gewänder gekleidet, vermutlich die einzigen Sachen, die sie besaßen. Die Kleidersäume waren halblang. Als Männer sahen sie in dieser Aufmachung geradezu töricht aus. Sie ließen die Schultern hängen. Die Augen waren glasig und ausdruckslos. Die Füße waren in Lumpen gehüllt. Interessanterweise hielten zwei der Gestalten gefiederte Lanzen in den Händen.
Wieder wandte ich mich dem Mann zu, der so etwas wie ein Anführer der Gruppe zu sein schien.
»Güte sei mit dir«, sagte er lächelnd.
Und ich erkannte, daß sein Verhalten nicht mutig gewesen war. Vielmehr hatte er in seinem Dasein nichts, für das sich zu leben lohnte. Vielleicht wäre ihm die Vernichtung sogar willkommen gewesen! Er hatte keine Anstalten gemacht, sich zu verteidigen.
»Wer seid ihr?« fragte ich.
»Wir sind der fröhliche Dung«, antwortete eine der Gestalten, »der die Erde anreichert und verschönt.«
»Wir sind die funkelnde Reflexion auf dem Wasser, die die Flüsse schön macht«, antwortete ein anderer.
»Wir sind Blumen, die auf dem Felde wachsen.«
»Wir sind nett.«
»Wir sind gut.«
Und wieder richtete ich den Blick auf den vermeintlichen Anführer, der sich Kürbis genannt hatte.
»Du bist der Anführer?« fragte ich.
»Nein, nein!« erwiderte er. »Wir sind alle gleich. Wir sind Gleiche. Wir sind nicht Ungleiche!« Bei diesen Worten zeigte er zum erstenmal ein Gefühl, nämlich Angst. Er wich zurück, drängte sich zwischen die anderen.
»Wir sind alle gleich«, sagte er.
»Woher wißt ihr das?«
»Wir müssen alle völlig gleich sein, es steht in der Lehre.«
»Ist die Lehre denn zutreffend?«
»Ja!«
»Woher willst du das wissen?«
»Sie ist der Test der Wahrheit.«
»Und woher weißt du das?«
»Es steht in der Lehre.«
»Dann ist deine Lehre nichts anderes als ein Kreis, der ohne Abstützung in der Luft schwebt.«
»Die Lehre braucht keine Abstützung«, sagte der Mann. »Sie ist in sich schlüssig und braucht nichts anderes. Sie ist ein goldener Kreis, sich selbst erhaltend, ewig.«
»Woher weißt du das?«
»Aufgrund der Lehre«, sagte ein Mann.
»Und was ist mit der Vernunft? Habt ihr Verwendung dafür?«
»Vernunft ist sehr kostbar«, antwortete ein Mann.
»Richtig verstanden und angewendet, ist sie voll vereinbar mit der Lehre und existiert in höchster Konsequenz, um der Lehre zu dienen.«
»Und was ist mit der Realität eurer Sinneswahrnehmungen?«
»Die Sinne sind notorisch unzuverlässig«, sagte einer der Graugekleideten.