»Vielleicht dauert es Tage, bis er wieder gehen kann«, sagte Grunt.
»Einen oder zwei Tage«, sagte ich.
»Vielleicht.«
»Er ist ein Kaiila.«
»Das stimmt«, sagte Grunt lächelnd. Dann wandte er sich an Pickel. »Mach dich ans Werk, Mädchen. Pack unsere Vorräte ein. Der Weg erwartet uns.«
»Ja, Herr«, sagte sie.
Ich half Grunt und Pickel, und nach kurzer Zeit hatten wir die Waren auf Grunts Lastenschlepper und auf dem Rücken meiner Pack-Kaiila befestigt.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich zu Grunt.
»Ich dir auch«, antwortete er.
Ich blickte Grunt und Pickel nach, die mit den drei Kaiila – Grunts Reittier, dem Tier mit dem Lastenschlepper und meinem Packtier – durch das hohe Gras zogen. Sie drehten sich um und winkten, und ich erwiderte die Geste. Nach einiger Zeit waren sie kaum noch zu erkennen; sie folgten der Fährte Cankas und seiner Gruppe. In der Ferne machte ich den Rauch von Abendfeuern aus, vermutlich lag dort das Kaiila-Lager.
»Woran denkst du?« fragte Cuwignaka.
»An verschiedene Dinge«, gab ich zurück.
»Wenn du nicht fliehen willst, solltest du Canka vielleicht jetzt folgen.«
»Ich werde auf dich warten.«
»Ich muß vielleicht noch ein Weilchen sitzenbleiben.«
Ich lächelte. »Ich warte.«
»Ein Sklave hat bei den Kaiila kein leichtes Los«, sagte Cuwignaka.
»Das hatte ich auch nicht angenommen.«
»Wenigstens bist du keine Frau«, sagte Cuwignaka. »Die Kaiila, wie auch andere Völker des Ödlandes, behandeln ihre weißen Schönheiten nicht gerade sanft.«
Ich nickte. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet.
»Canka hat Winyela nicht einmal gefesselt«, stellte ich fest.
»Sie braucht ihm nur mit einer Kleinigkeit zu mißfallen«, sagte Cuwignaka, »schon wird sie erkennen müssen, daß sie eine Sklavin und er ihr Herr ist.«
»Da hast du sicher recht«, antwortete ich und fand es angebracht, daß die frühere Miß Millicent Aubrey-Welles ein strenges Regiment kennenlernen würde.
»Ich verstehe allerdings nicht, warum ich nicht entkleidet und gefesselt wurde«, fuhr ich fort.
»Das ist nicht schwer zu verstehen«, meinte Cuwignaka.
»Warum behandelte man mich so nachsichtig«, fragte ich. »Warum wurde ich nicht angegriffen? Warum erhielt ich die Gelegenheit zur Flucht?«
»Kannst du es dir nicht denken?«
»Nein.«
»Canka«, sagte Cuwignaka, »ist mein Bruder.«
»Was tust du?« fragte Cuwignaka. Ich hatte meine Kaiila geholt. »Was tust du?« wiederholte er. Sanft hob ich ihn in den Sattel.
»Ich kann gehen«, behauptete er.
»Nein, kannst du nicht«, widersprach ich.
»Es wird nicht lange dauern, dann kann ich wieder gehen.«
»Du reitest!« befahl ich. Dann reichte ich ihm die Lanze, die im Gras gelegen hatte.
Cuwignaka schwankte im Sattel, und ich stützte ihn.
Dann blickte ich über die Prärie.
Irgendwo dort draußen, an einem unbekannten Ort, hielt sich Zarendargar auf. Ich war seinetwegen ins Ödland gekommen. Kog und Sardak und einige Genossen hatten den großen Angriff der roten Krieger überstanden, ebenso wie mindestens ein anderer Kur, der vor kurzem noch eine Gruppe Waniyanpi bedroht hatte. Ich war sicher, daß sie ihren üblen Auftrag weiterverfolgen würden. Die Kurii sind hartnäckig. Ich nahm nicht an, daß den Ungeheuern von den roten Wilden Gefahr drohte. Mehrere zottige Wesen hatten das Schlachtfeld unbehelligt verlassen. Sie waren den roten Wilden nicht bekannt und mochten für Bewohner der Medizinwelt gehalten werden. Wahrscheinlich würden die Krieger einen weiten Bogen um jeden Kur machen.
Eine solche Zurückhaltung konnte ein einsamer Weißer, der durch das Ödland wanderte, nicht erwarten; vielleicht würde man sogar aus Spaß Jagd auf ihn machen. Alfred, der Söldnerhauptmann aus Port Olni, war in diesem Moment mit seinen Männern auf dem Weg in die Zivilisation. Vermutlich würde ihnen die Flucht gelingen. Nur wenige Stämme würden es wagen, wenn überhaupt, sich gegen eine Streitmacht von drei- oder vierhundert Kämpfern zu stellen, die nun außerdem viel vorsichtiger sein würden. Törichte Arroganz hatte sie eine bittere Medizin schlucken lassen; die Überlebenden würden dafür sorgen, daß ähnliche Fehler nicht noch einmal gemacht wurden. Alfred oder seine Männer würde ich wohl nie wiedersehen.
Ich blickte in die flache Senke hinter mir. Dort unten waren Kürbis und seine Waniyanpi noch immer mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Hinter einem der halb verbrannten Wagen hockte die ehemals so stolze Lady Mira, Agentin der Kurii, ansässig in der Erholungsstadt Venna. Hier und jetzt war sie nichts anderes als eine nackte, anziehende Sklavin. Sie war den Waniyanpi überlassen worden, die sie respektvoll behandeln und ›Radieschen‹ nennen würden.
»Ich glaube, ich bin bereit«, sagte Cuwignaka.
»Kannst du reiten?« fragte ich.
»Ja.«
Noch einmal ließ ich den Blick über die Prärie wandern. Der Horizont war weit; das Land erstreckte sich ringsum ohne Hindernisse.
Dann führte ich die Kaiila, auf der Cuwignaka vorübergebeugt hockte, und folgte den Spuren der anderen, die uns vorausgeritten waren: Canka und seine Gruppe und Grunt und Pickel. So nahmen wir uns den Rauch der abendlichen Feuerstellen zum Ziel, das Lager der Isbu-Kaiila.
Kurze Zeit später richtete Cuwignaka sich auf. Es freute mich zu sehen, daß er den Kopf reckte. Er war stark. Er war ein Kaiila.
»Der Weg erwartet uns«, sagte Cuwignaka.
»Ja«, antwortete ich.