Ihr Schimmel ließ ebenfalls den Hügel hinter sich. Fast gleichzeitig drangen die Pferde in den Wall aus Teichbinsen ein. Die graugrünen Stängel überragten sie. Ärgerliches Entengeschnatter ertönte ganz in der Nähe. Shaya konnte kaum einen Schritt weit sehen. Das Dickicht aus fingerdicken Halmen hatte sie verschlungen. Schmatzender Schlamm wich dunkelbraunem Wasser. Unbeirrt strebte ihre Stute voran und gelangte in tieferes Wasser, das Shaya bis über die Knie reichte. Es war unangenehm kalt. Schlammspritzer sprenkelten das blütenweiße Fell der Stute.
Der Wall aus Teichbinsen wich zurück. Eine träge Strömung ließ sie ein wenig abdriften. Vielleicht zwanzig Schritt neben ihr und fast auf gleicher Höhe sah sie Subai. Wütend starrte er zu ihr hinüber. Sein Hengst wirkte abgekämpft. Wahrscheinlich setzte ihm das kalte Wasser mehr zu als ihrem Pony. Sie lächelte herausfordernd. Sehr bald würde sich zeigen, wer den längeren Atem hatte.
Als sie den Binsengürtel des jenseitigen Ufers erreichten, klapperten Shaya die Zähne. Sie fühlte sich, als hätten böse Flussgeister alle Wärme ihres Körpers gestohlen. Sie beugte sich vor, bis sie den angenehm warmen Nacken der Stute berührte.
Endlich fanden sie festen Boden. Mit kräftigen Schritten ließen sie den Fluss hinter sich. Binsenstängel schlugen Shaya ins Gesicht. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Stute schnaubte, als wolle sie ihr Mut machen.
Als sie durch den grünen Wall brachen und das weite Grasland wieder vor sich liegen sahen, war Subai nirgends zu entdecken. Heiße Freude durchfuhr Shaya. Sie würde es ihm zeigen!
Die dunklen Gestalten am Horizont waren nun zu erkennen. Es waren Reiter. Hundert oder mehr. Rossschweifstandarten wehten von langen Stangen. Ein ganzer Wald davon. Der Adler kreiste über den Reitern. Stieß wie ein Pfeil vom Himmel hinab und verschwand.
Dort hinten musste ihr Vater sein. Kein Fürst des weiten Graslandes würde es wagen, so viele Standarten um sich zu versammeln. Der Unsterbliche Madyas war mit seinem Adler zur Wolfsjagd ausgeritten. Das traf sich gut! Sie würde als Siegerin eines Wettreitens vor ihn treten und nicht als gedemütigte Gefangene ihres Bruders!
Ein wilder Schrei ließ sie herumfahren. Subai brach mit seinem Rappen aus dem Binsendickicht. Der große Rappe sah zum Erbarmen aus. Schaum troff von seinem Maul. Seine Flanken waren zerschunden von Subais Peitschenhieben. Mit angstweiten Augen preschte der Hengst auf das Grasland hinaus, Madyas Jagdgesellschaft entgegen.
Shaya wusste, dass sie gewonnen hatte. Sie war unter Pferden aufgewachsen. Fremde spotteten gerne, dass den Ischkuzaia ihre Pferde mehr bedeuteten als ihre Frauen und Kinder. Ganz falsch war das nicht.
Subais Rappe gab unter den wütenden Hieben ihres Bruders sein Letztes und kämpfte sich noch einmal einen kleinen Vorsprung heraus. Entschlossen setzte ihre Stute dem Vollblut nach, als habe das kleine Pony ebenfalls den Ehrgeiz, den großen Hengst zu besiegen.
Das Land stieg sanft an. Der Boden war hier sandiger als auf der anderen Seite des Flusses. Trockener. Bald hatten sie Subai eingeholt. Shaya hielt sich ein gutes Stück seitlich von ihm, denn sie traute ihm zu, dass er mit der Peitsche nach ihr schlagen würde, wenn sie ihm zu nahe käme. Er wusste, dass er nicht mehr siegen konnte. Und was noch schlimmer war, er würde seine Niederlage unter den Augen ihres Vaters erleiden.
Die Reiterschar hatte auf dem nächsten Hügelkamm innegehalten. Schweigend verfolgten sie das Wettrennen. Jedem war klar, wie es enden würde. Shaya blickte nach hinten. Sie lag nun drei Pferdelängen vor Subai. Blut mischte sich in die weißen Flocken um die Nüstern des Rappen. Ihr Bruder hatte den stolzen Hengst zuschanden geritten. Für nichts! Er würde nicht daraus lernen. Wahrscheinlich würde er behaupten, ihr böser Blick habe sein Pferd verhext. Und die meisten würden ihm glauben. Ihr Sieg bedeutete gar nichts, begriff Shaya. Vielleicht sollte sie den Hengst an sich vorüberziehen lassen. Ihrem Bruder vor aller Augen den Sieg schenken. Würde das etwas ändern?
Schweigend starrten die Reiter zu ihnen herab. Sie entdeckte den Adler auf der Faust eines stämmigen Kriegers, erkannte einige Berater, die schon in ihrer Kindheit zum Gefolge ihres Vaters gehört hatten. Die meisten der Männer jedoch waren ihr fremd. Keine einzige Frau gehörte der Jagdgesellschaft an.
Plötzlich knickte ihre Stute ein. Shaya wurde aus dem Sattel geschleudert, über den Kopf des kleinen Ponys hinweg, das ein erschrockenes, fast menschlich klingendes Keuchen ausstieß. Mit einem harten Schlag landete sie auf dem Rücken. Etwas in ihrer Schulter knackte. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Grelle Lichtpunkte tanzten vor den bleigrauen Wolken. Benommen schüttelte sie den Kopf und sah zu ihrem Pony. Es wand sich im Gras. Wieherte zum Erbarmen und versuchte wieder aufzustehen. Es würde nie wieder stehen. Der linke Vorderlauf war gebrochen. Der blanke Knochen ragte aus dem zerschundenen Fleisch.
»Nein«, stammelte sie. »Nein.«
Subai ritt im Schritt an ihr vorüber. »Der Weiße Wolf wollte nicht, dass du siegst. Dein Hochmut hat selbst die Devanthar gegen dich aufgebracht.«
Shaya ballte die Fäuste. Jetzt erst bemerkte sie das Erdloch. Ihre Stute musste mit dem Vorderlauf in einen Murmeltiertunnel dicht unter der Grasnarbe eingebrochen sein. Das war nicht gerecht. Es war … Sie tastete nach ihrem Messer und zuckte vor Schmerz zusammen. Ihre rechte Schulter musste ausgekugelt sein. Selbst zu atmen schmerzte.
Ihr Pony hatte die Augen so weit aufgerissen, dass sie ganz von weißen Rändern eingefasst waren. Shaya zog ihr Messer mit links und kroch zu ihm hinüber. Vorsichtig strich sie ihm über den Hals. Dann setzte sie die Klinge an eine der dicken Adern, die unter dem Fell am Hals zu erkennen waren. Sie schnitt nicht tief. Warmes Blut rann über ihre Hand. Vorsichtig streichelte sie weiter den Hals. Der Atem der Stute ging nun ruhiger.
»Warum soll es länger leiden als notwendig?« Madyas, ihr Vater, stand hinter ihr. In seinen schwarzen Augen zeigte sich keine Regung. Nicht ein graues Haar war unter den Stoppeln auf seinen Wangen. Er war unsterblich … Und so anders als Aaron.
In der Linken hielt Madyas einen Jagdspeer mit schmalem Stichblatt. Sie schluckte, hob die Linke …
Bevor ein Wort über ihre Lippen kam, wirbelte er den Speer herum und stieß ihn mit aller Kraft durch das Auge der Stute. Die Läufe des Ponys zuckten. Dann lag es still.
»Glaubst du, ein langsamer Tod ist ein besserer Tod?«, fragte er verächtlich.
Sie sagte nichts. Es war nicht klug, ihm Widerworte zu geben. Ihr Vater war von gedrungener Gestalt. Er war nicht sehr groß, aber er verströmte eine fast animalische Lebendigkeit. Seine Kinder alterten und wurden grau neben ihm. Er blieb äußerlich immer derselbe. Mit seinem harten Gesicht und dem zu großen Kinn. Den buschigen Brauen, den stets stoppeligen Wangen und der nicht zu bändigenden Haarsträhne, die ihm in die Stirn hing. Er trug ein Wams aus dickem Leder, das bei jeder seiner Bewegungen leise knarzte. Seine Arme waren nackt, sodass man die von Narben zerfurchten Wolfstätowierungen darauf deutlich sehen konnte.
»Steh auf, wenn du nicht als verweichlichtes Weib gelten willst.«
Sie sah ihn überrascht an. Das war doch die Rolle, die er ihr zugedacht hatte! Oder hatte Subai sie belogen?
Shaya biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch.
»Du hast dir die Schulter ausgekugelt.« Er sagte das ohne einen Anflug von Mitleid. »Wenn du dir bei dem Sturz den Hals gebrochen hättest, hätte ich dich in Streifen schneiden und an die Lagerhunde verfüttern lassen. Ich habe Pläne mit dir. Dieser Reitunfall stört sie. Reiß dich also zusammen.«
Sie gehorchte und fragte sich, wo jener warmherzige Vater geblieben war, für den sie vor langen Jahren auf der Trommel getanzt hatte.