Alle Einfallstunnel in den Berg waren vielfach verwinkelt. Flammenzungen würden gebrochen werden und schon nach weniger als hundert Schritt ihre Macht verlieren. Die Tyrannen waren zu groß, um selbst in die Tunnel zu kriechen. Also würden sie ihre gedungenen Mörder, die Elfen, schicken. Und diese arroganten Schnösel würden hier in der Tiefen Stadt lernen, was es hieß, gedemütigt zu werden. Er hatte die stählernen Federn der drei Fallen geprüft. Die Zahnräder, die den Mechanismus in Bewegung setzten, der die Federn spannte. Alles war bereit. Diese Tunnel waren ihre mächtigste Waffe. Sie waren auf keinem Plan verzeichnet. Nur ein einziger Zwerg kannte sie alle. Jari, der Wächter. Er wartete in einer verborgenen Kammer jahrein, jahraus auf das Signal, die Parallelgänge zu öffnen und die Haupttunnel zu blockieren. Die Elfen würden erst merken, dass sie in eine Falle getappt waren, wenn es zu spät war. Und sollten ein paar dieser langohrigen Mörder überleben, vermochte die Tiefe Stadt mehr als dreihundert bis an die Zähne bewaffnete Krieger aufzubieten, um diesen letzten Elfen den Rest zu geben.
Fleischmesser, Schnitter und Fleischwolf hatte Galar seine drei Fallen genannt. Er blickte zufrieden den langen Tunnel hinab. Dann legte er den steinernen Hebel um, der die Sicherungsbolzen löste und die Fallen wieder scharf machte. Wer jetzt hierherkam, war des Todes. Galar lächelte. Der Schmerz ließ ihn erneut zusammenzucken. Die Elfen würden für ihren Hochmut büßen. Der Weiße Drache war erst der Anfang gewesen. Kamen die Drachen hierher, würde ein Krieg beginnen, wie ihn Albenmark noch nicht gesehen hatte. Und die Ersten, die ihre blinde Ergebenheit mit dem Leben bezahlten, wären die Drachenelfen!
Hier war alles getan. Jetzt musste er sich um seine kostbare Habe kümmern. Er war auf Krieg und Verrat vorbereitet. Sollte er im Kampf um die Tiefe Stadt fallen, hätte er zumindest die Genugtuung, dass seine Schätze für immer verschollen sein würden.
Vor aller Augen
Voller Missfallen betrachtete Shaya das Kleid, das auf der dunklen Kiste neben ihrer Schlafmatte lag. Sie war in einer Jurte mit festem Holzboden untergebracht. Zwei Öllämpchen, geformt wie Steppenponys, verströmten ein angenehmes, gelbes Licht. Ein Eberfell lag auf dem Boden und zwei kleine Kissen, mehr hatte ihre Unterkunft nicht zu bieten. Und mehr brauchte sie auch nicht. Bis auf eines. Ihre Waffen fehlten. Sie hatte verstanden, dass ihr Vater entschieden hatte, dass ihre Tage als Kriegerin vorüber waren. Sie würde sich seinem Willen fügen müssen. Aber ihre Waffen sollten ihr bleiben! Kein Ischkuzaia verzichtete darauf. Jedenfalls kein Krieger, der sich im Kampf bewährt und so viele Feinde erschlagen hatte wie sie. Ihr Volk bestattete seine toten Helden in Erdhügeln, zusammen mit ihren Pferden und eben den Waffen. Wenn sie nun lebendig in solch einer Jurte bestattet sein sollte, ihre Vergangenheit begraben war und sie ein Leben führen musste, in dem alles gestorben war, was ihr einmal etwas bedeutet hatte, dann sollte sie wenigstens ihre Waffen behalten dürfen, auch wenn sie diese niemals mehr tragen würde.
Sie hatte sich eine Rede zurechtgelegt, mit der sie bei ihrem Vater diese Gunst einfordern wollte. Er hielt viel auf Kriegertugenden. Wenn sie ihn in der richtigen Stimmung fand und die rechten Worte wählte, würde sie ihn vielleicht umstimmen können.
Shaya nahm das weiße Kleid von der Truhe. Der Stoff war wunderbar zart und glatt. Seide. Sie seufzte. Das also war ihre Zukunft. Sie hielt sich das Kleid an den Leib. Es war unten weit ausgestellt und würde, wenn alle Verschnürungen geschlossen waren, von der Hüfte aufwärts so eng anliegen wie eine zweite Haut. Ihr wurde klar, dass sie Hilfe brauchen würde, um es anzulegen. Jetzt tat es ihr leid, dass sie die beiden Dienerinnen, die sie bei ihrer Ankunft in der Jurte angetroffen hatte, hinausgeworfen hatte.
So ein Kleid anzulegen hieß, seinen Körper öffentlich feilzubieten, dachte sie zornig. Sie warf es zurück auf die Truhe und bezahlte für die ruckartige Bewegung mit einem stechenden Schmerz in der Schulter. Shaya fluchte. Die ganze Welt hatte sich gegen sie verschworen! Sie hätte mit Aaron gehen sollen. Wer hätte es verhindern können?
Die Antwort lag auf der Hand. Die Devanthar. Als Tochter eines Unsterblichen würde sie niemals zur Hauptfrau eines anderen Unsterblichen werden. Die Devanthar wollten nicht, dass sich die Mächtigsten der Welt miteinander verbündeten.
Shaya presste ihren Arm eng an den Leib und brachte ihn in eine Position, in der er nicht schmerzte. Sie würde niemals ohne Hilfe dieses Kleid anlegen können, dachte sie verbittert. Und wenn sie nicht herausgeputzt in der Stunde der Dämmerung in der großen Jurte ihres Vaters erschien … Sie dachte an ihre Waffen. Sie jemals wiederzubekommen würde ihr nur gelingen, wenn sie alles unterließ, was ihn erzürnen mochte. Die Männer seines Hofstaats kannten sie. Viele zumindest. Sie würden wissen, dass sie nicht freiwillig in solch einem Aufzug erschien. Nicht sie würde ihr Gesicht verlieren. Die Schande, sich wie eine Hure herausgeputzt zu haben, würde auf ihren Vater zurückfallen.
Shaya ging zum Eingang der Jurte und schlug das schwere Leder zurück. Drei Krieger standen Wache. Drei! Man konnte das als eine Auszeichnung sehen. Nur bedeutende Mitglieder des Hofes hatten das Anrecht, eine dreiköpfige Ehrenwache vor ihrem Zelt aufziehen zu lassen. Selbst der Unsterbliche umgab sich bei Hof nie mit mehr als vier Leibwächtern, und die meisten ihrer Geschwister geboten über keine einzige Wache. Doch Shaya hatte lediglich das Gefühl, gefangen gesetzt zu sein. Diese Männer gehorchten allein ihrem Vater.
Es dauerte nicht lange, bis die Dienerinnen zurückkehrten. Auch wenn die beiden demütig die Blicke gesenkt hielten und schwiegen, während sie sie zurechtmachten, spürte Shaya deutlich ihre stillschweigende Genugtuung. So schloss sich der Kreis. Sie dienten ihr, die ihrerseits fortan auch nur noch zu dienen hatte.
Schließlich trug sie das Kleid. Nur das Kleid. Keine Stiefel, nichts. Sie fühlte sich seltsam. Vielleicht wäre sie so zu einem Stelldichein mit Aaron gegangen. Aber so vor den Rat ihres Vaters zu treten … Die Dienerinnen hatten ihre Haare mit Elfenbeinkämmen hochgesteckt, die mit stilisierten Blüten geschmückt waren. Sie hatten sie geschminkt und Rosenwasser auf ihre Haut geträufelt. Sie empfand den Aufzug als schamlos.
Shaya rieb sich mit der Linken über die Stirn. Manchmal fühlte sie sich wie in einem Traum gefangen. Ihre Wirklichkeit war ihr abhandengekommen. Das hier war nicht ihr Leben.
»Herrin, der Unsterbliche erwartet Euch.«
Die beiden jungen Mädchen knieten vor ihr, demütig die Köpfe gesenkt. Taten sie das bei jedem Weib, dem sie dienten, oder hatten sie Angst vor ihr?
Den schmerzenden Arm dicht an den Leib gepresst, verließ Shaya ihre Jurte. Lieber wäre sie in eine Schlacht gezogen, als zum Spielball von Hofintrigen zu werden. In richtigen Kämpfen kannte sie sich aus. Hier fühlte sie sich hilflos, ja ausgeliefert.
Sie befand sich im Inneren Lager. Der Wandernde Hof umfasste Tausende Jurten. Er füllte ein weites Tal. Es wurde niemals still in diesem riesigen Lager. Eine Stadt, ein Königshof und ein Heer waren miteinander zu einem riesigen Lindwurm verschmolzen, der sich rastlos durch die weite Steppe wand. Selten verweilte der Hof länger als einige Tage an einem Ort. Dann ging es weiter. Und im Grasland blieb eine Narbe zurück, wenn der Hof des Unsterblichen Madyas vorübergezogen war. Kahlgefressene Hänge, die Herden von Pferden, Kamelen und Ochsen genährt hatten. Eine Furche aus schwarzem Schlamm, wo ungezählte Füße und Hufe den Grund aufgewühlt hatten.
Shaya atmete tief durch und straffte sich, so gut der Schmerz in ihrer Schulter dies zuließ. Es roch nach dem Rauch von Dungfeuern, gebratenem Büffelfleisch, Suppen und frisch gegerbtem Leder. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken, als sie, eskortiert von ihren Leibwachen, durch das Lager schritt. Das Innere Lager war durch eine niedrige Palisade aus zugespitzten Pfählen vom Hauptlager getrennt. Hier weilten nur die Freunde und Berater ihres Vaters mit einer handverlesenen Dienerschaft. Und Shayas zahlreiche Geschwister.