Der Unsterbliche winkte ihm. »Siehst du ihn?« Muwatta deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Mitte der feindlichen Schlachtlinie. »Dort, bei der goldenen Standarte.«
Kurunta kniff die Augen zusammen. Er sah nicht mehr so gut, auch wenn er gemeinhin ein Geheimnis daraus machte. Jetzt konnte er nicht erkennen, was der Unsterbliche meinte. Nicht einmal das Feldzeichen vermochte er zu entdecken. Für ihn war das feindliche Heer nur eine lange Linie von großen, mit Kuhhaut bespannten Schilden, über der bronzene Helme funkelten.
»Aaron steht dort, inmitten seiner Männer.«
Kurunta schüttelte den Kopf. »Das ist dumm! Da hat er keinen Überblick. Er ist der Feldherr. Wie will er sein Heer lenken, wenn er inmitten des Durcheinanders der Nahkämpfe steckt?«
»Vielleicht tut er es, damit seine Bauern nicht schon bei unserem Anblick davonlaufen«, mutmaßte der Unsterbliche. »Womöglich werden die Elefanten allein schon ausreichen, um diese Schlacht zu gewinnen.«
Kurunta verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie die grauen Kolosse zwischen den Hügeln hervorkamen und auf das trockene Flussbett zumarschierten. Langsam, aber unerbittlich. Er war froh, nicht zu den Männern zu gehören, die diesen Ungeheuern standhalten mussten.
Fast dieselben Worte
Narek blickte zu Ashot auf. Die Löwen von Belbek hatten ihn auf ihre Schultern gehoben, damit alle Männer in der dichtgedrängten Schlachtlinie ihn gut sehen konnten.
Sein Freund sah aus wie ein Satrap, dachte Narek stolz. Ashots Rüstung glänzte großartig. Er trug einen Bronzehelm mit langem, schwarzem Rosshaarschweif, und obwohl es ein heißer Tag werden würde, hatte er ein Fell von irgendeiner gefleckten Raubkatze um seine Hüften gewickelt. Wenn die Frauen von Belbek ihn nur so sehen könnten! Der Sohn des ruinierten Schweinezüchters war ein Feldherr geworden! Wahrscheinlich hatte noch nie ein Mann aus Belbek so prachtvoll ausgesehen. Narek grinste. Und er war der beste Freund dieses Helden. Auch er durfte sich in Ashots Ruhm sonnen, wenn sie heimkehrten. Er war der Standartenträger des Feldherrn. Der Hüter des goldenen Löwen, der hoch über ihren Häuptern auf einer rot lackierten Stange steckte.
»Männer«, rief Ashot. »Viele von euch werden den Abend nicht erleben. Wir sind Väter, Brüder, Bauern. Unser Blut und unser Schweiß haften an dem Land, das wir beackern. Wir kämpfen jeden Tag, an dem wir hinaus auf unsere steinigen Äcker gehen. Wir kämpfen öfter und härter als die Krieger, denen wir uns heute entgegenstellen. Ihr habt sie gesehen, die Männer des Krieges. Ihr habt mit ihnen geübt. Sie sind nicht stärker als wir. Nur in einem sind sie uns voraus. Sie haben Erfahrung darin, Kehlen durchzuschneiden. Ganz gleich, was heute geschieht und welche Schrecken uns erwarten, vergesst nicht eure Stärke. Haltet aus! Flieht nicht, rückt enger zusammen, wenn die Angst euch überwältigt. Es sind die, die fliehen, die zu Hunderten sterben, die keinen Freund an ihrer Seite mehr haben, der sie mit seinem Schild beschützt. Die, denen der Feind im Nacken sitzt, dem ein Leben nichts gilt, der nie aufgebaut hat, der nur für Mord und Gewalt kämpft. Bleibt standhaft! Rückt zusammen! Beschützt den Mann an eurer Seite! Das ist alles, was ich von euch erwarte. Vertraut meinen Worten, und wir werden als stolze Männer auf die Äcker Naris zurückkehren.«
Irgendwie machte Ashot den Eindruck, als seien ihm gerade die Worte ausgegangen, dachte Narek. Das war kein guter Zeitpunkt. Da musste noch etwas kommen. Er spürte die Spannung. Ashot hatte mit allem recht, aber er sollte noch etwas sagen, was alle anfeuerte.
»Hebt mich hoch, Männer!«, befahl der Unsterbliche, der mit ernster Miene Ashots Worten gelauscht hatte. Dann griff er Ashots Faden auf. »Manche sagen, als Unsterblicher sei ich der Vater meines Landes. Alt genug dazu bin ich wahrlich, euer Vater zu sein. Aber wenn ich an meinen Vater denke, erinnere ich mich vor allem daran, wie er mich verdroschen hat, wenn ich irgendetwas tat, was ihm nicht gefiel.«
Narek sah den hageren Lamgi neben sich grinsen. Einige Männer lachten leise. Auch er erinnerte sich noch gut an so manche Tracht Prügel, die sein Vater ihm verabreicht hatte.
»Manches Mal hab ich zu Unrecht den Hintern verdroschen bekommen. Es waren jene Male, als ich die bittersten Tränen vergossen habe, denn Ungerechtigkeit schmerzt mehr als ein paar Hiebe.«
Narek erinnerte sich an eine Tracht Prügel für ein Hühnerei, das er angeblich gestohlen hatte. Hinterher war herausgekommen, dass das blöde Huhn es nur gut versteckt hatte. Tagelang hatte ihm der Hintern gebrannt.
»Hinter den Hügeln«, fuhr der Unsterbliche fort, »stehen ein paar tausend Luwier, die glauben, sie könnten uns den Hintern versohlen, weil sie stolze Krieger sind und wir nur dreckige Bauern. Aber wir sind keine Kinder mehr. Wir lassen uns nicht herumschubsen und verprügeln!«
»Genau!«, rief Aleksan, der Hauptmann der Nachtwachen.
»Manche fragen sich, warum ich, der Unsterbliche Aaron, lieber inmitten von Bauern stehe, als mich mit meiner Leibgarde zu umgeben. Die Antwort ist ganz einfach. Was tut ein Krieger, wenn er merkt, dass eine Schlacht verloren geht? Er läuft davon! Was aber macht ein Bauer, dem ein Sturm die Ernte ruiniert? Läuft er fort?« Der Unsterbliche blickte auf sie herab, als erwarte er eine Antwort.
»Mir ist einmal ein Kornfeld abgebrannt«, rief Narek. »Ich musste den ganzen Winter alle meine Nachbarn anschnorren. War übel …«
»Und was hast du im nächsten Frühjahr getan?«, fragte Aaron.
»Ich hab das Feld neu bestellt.« Narek wunderte sich ein wenig. Wozu diese Frage? Es lag doch auf der Hand, was ein Bauer im Frühjahr tat.
»Genau deshalb bin ich hier!« rief der Unsterbliche. »Ihr seid keine Männer, die weglaufen. Wenn das Schicksal euch niederwirft, dann rückt ihr in den Dörfern enger zusammen. Ihr helft einander wieder auf die Beine. Ihr haltet durch, ganz gleich welche üblen Überraschungen das Leben auch bereithält. Und genau das werden wir tun, wenn die Luwier hinter ihren Hügeln hervorkommen. Zusammenrücken, sie kommen lassen. Und dann will ich in der ersten Reihe stehen, wenn wir ihnen die Überraschung ihres Lebens bereiten. Wenn wir sie verdreschen. Ich will in ihre Augen sehen, wenn sie mit Schrecken erkennen, mit was für einer Sorte Männer sie sich hier angelegt haben. Dass wir härter sind als sie. Dass sie uns nicht von diesem Ufer vertreiben können, ganz gleich, wie oft sie es auch bestürmen. Und sie werden ihr ganzes Leben lang den Tag nicht vergessen, an dem sie auszogen, um ein paar Bauern niederzumachen, und den Löwen Arams begegneten! Werdet ihr das heute für mich sein? Meine Löwen?«
Jubel brandete auf. Seltsam, dachte Narek. Der Unsterbliche hatte fast dasselbe gesagt wie Ashot, aber ihm jubelten sie zu. Wieder dachte er an seinen Freund Artax, der nach Nangog gegangen war, um sein Glück zu suchen. Wenn er etwas erklärt hatte, hatte es auch jeder verstanden.
»Wer seid ihr?«, rief Aaron.
»Deine Löwen! Deine Löwen!«, brandete es von überall auf den Unsterblichen ein.
Plötzlich hatte Aaron es eilig, von den Schultern seiner Männer herunterzukommen.
Ashot war schon unten. Er machte ein mürrisches Gesicht.
»Sie kommen«, rief der Unsterbliche. »Rückt zusammen! Seid tapfer!«
Die letzten Worte sprach Aaron in einem Tonfall, der Narek Angst machte. Und dann hörte er die Entsetzensschreie der Männer in der ersten Schlachtreihe.
»Sie schicken uns Ungeheuer. Wandelnde Türme!«
Elefanten
Elefanten! Artax fluchte. Hundert! Vielleicht sogar noch mehr. Er hätte es ahnen können. Muwatta hatte ihn im vergangenen Jahr zum Fest der Heiligen Hochzeit auf dem Rücken eines Elefanten thronend empfangen. Natürlich nutzte er diese grauen Kolosse auch, um sein Heer zu verstärken.
Artax drängte sich durch die Reihen seiner Männer nach vorne, um besser sehen zu können, was da auf sie zukam. Er trug unförmige Holzschuhe, die mit Stroh ausgepolstert waren. Sie machten jeden seiner Schritte schwer und ungelenk.