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Die Krieger in der vordersten Reihe wichen zurück. Nicht viel, nur zwei oder drei Schritt. Der Mann neben ihm begann zu beten. Sein Gesicht war aschfahl.

»Was kommt da auf uns zu?« Narek wünschte, Ashot wäre bei ihm, aber sein Freund stand in der ersten Reihe des Schildwalls. Vor Ashot gab es nur noch die Plänkler, die man nun so schrecklich schreien hörte. Und den Unsterblichen. Er war einfach nach vorne gegangen, um sich der Gefahr zu stellen. Aaron war so mutig. Ashot würde jetzt sagen, dass es keine Kunst war, mutig zu sein, wenn man eine von Göttern erschaffene Rüstung trug und unsterblich war. Narek seufzte. Sich Ashots Boshaftigkeiten vorzustellen half. Er kannte ihn sein ganzes Leben lang. Schon als Kind war er ziemlich unausstehlich gewesen. Außer ihm und Artax hatte Ashot keine Freunde gehabt.

Ein kaum zwölfjähriger Junge kroch zwischen den Beinen der Schildträger in der vordersten Reihe hindurch. Sein Gesicht war eine mit Blut bespritzte Maske des Schreckens. Er musste zu den Schleuderern gehört haben, die nur mit Lederschlingen und Steinen bewaffnet versucht hatten, den Vormarsch der Luwier zu verlangsamen. Der Junge kroch weiter, ohne sich um die Flüche der Männer zu kümmern, die er anrempelte. Erst als er an ihm vorbeikroch, sah Narek, dass der Rücken des Jungen aufgeschlitzt war, bis auf die Rippen hinab.

Der Anblick war wie ein Schlag in den Magen. Übelkeit wallte in Narek hoch. Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter. Lamgi, der hagere Bauer aus der Nähe von Nari. Er wirkte völlig ruhig.

»Hast du keine Angst?«

Statt zu antworten, lächelte Lamgi nur. »Du darfst nicht zurückweichen. Du trägst das Feldzeichen. Wenn du zurückgehst, geht die ganze Schlachtlinie mit dir. Und wir wollen doch hier darauf warten, dass Aaron zurückkehrt. Wir haben es ihm versprochen.«

Narek nickte beschämt. »Wie schaffst du es, keine Angst zu haben? Kannst du mir den Trick verraten? Ich will wirklich kein Feigling sein, aber ich habe solche Angst, dass meine Beine nicht mehr auf das hören, was ich eigentlich will.«

Lamgi lachte. »Ich verspreche dir, dich festzuhalten, falls du fortlaufen willst.« Sein Kamerad trug keinerlei Rüstung. Als Einziger aus Ashots Leibwache! Er war einfach nicht dazu zu überreden gewesen. Nur mit einer Tunika bekleidet, stand er hier zwischen all den Gewappneten. Er hielt einen kleinen Schild und einen Speer. Kein Helm saß auf seinem Kopf, aber er hatte die Lederschnüre mit den Amuletten, die sein Messer umschlungen hatten, geöffnet. Heute war der Tag, an dem Lamgi sich ganz unter den Schutz des Tempelsegens stellen würde. Wenn er an Lamgis Seite blieb, wirkte sich der Segensspruch der Priester vielleicht auch auf ihn aus. Er könnte …

Plötzlich ragte ein Turm über den Häuptern in der ersten Reihe auf. Narek blickte entgeistert zu den drei Kriegern in dem hölzernen Gebilde auf, das dem Erdboden entwachsen zu sein schien. Zwei schossen mit Bögen auf die Männer der Schlachtlinie. Der dritte stieß mit einer langen Lanze.

»Ruhig!«, rief irgendwo hinter ihm einer der Hauptleute. »Steht!«

Wieder meldeten sich Nareks Beine mit dem dringenden Wunsch zu laufen. Er stampfte mit seinen Holzschuhen fest auf den Boden. Das hier war sein Platz! Er hielt die Standarte. Er durfte nicht fliehen!

»Die Speere nieder!«, schrie jemand vor ihm.

Hundert Mal hatte Narek diesen Befehl in den letzten Tagen gehört. Er senkte die Standarte, als sei sie ein Speer. Vor der ersten Reihe erklang ein grässlicher Schrei. Ein zerschundener Körper wirbelte über die erste Schlachtlinie hinweg. Ein kopfloser Torso. Er krachte in die Schilde, riss Männer nieder, brachte die Reihen ins Wanken.

Narek riss seine Standarte hoch. Und dann erschien der Kopf des Ungeheuers, das den Turm trug. Stählerne Zähne ragten krumm aus seinem Maul, und eine goldgeschuppte Schlange wand sich mitten in seinem Gesicht.

Mit einem Kopfschlenkern zerschmetterte die Bestie die erste Reihe. Eisen kreischte auf Bronze, zerfetzte das goldschimmernde Metall, riss Leiber auf. Abgebrochene Pfeile ragten aus den Flanken des Ungeheuers, doch nichts schien es aufhalten zu können.

Rings um Narek ließen Männer ihre Speere und Schilde fallen und wandten sich zur Flucht. Doch in den dichtgedrängten Schlachtreihen gab es kein schnelles Entkommen.

Das Ungeheuer stieg über die Böschung. Wieder zerschmetterten die langen Eisensicheln, die aus seinem Maul ragten, Schilde und Brustpanzer. Ein aufgerissener Eberzahnhelm fiel vor Nareks Füße. Die bleichen Hauer waren gesplittert und glitten von den Lederschnüren, die sie gehalten hatten.

Das Geschrei ringsherum war unbeschreiblich. Männer fluchten, flehten um Gnade, schrien vor Schmerz und Angst. Und weiter unten ertönten noch weitere der tierischen Trompetenstöße, als wolle eine ganze Horde dieser Ungeheuer gleich die Böschung hinaufkommen.

Ein Verzweifelter griff nach einem der breiten Lederriemen, die den Turm hielten, der auf den Rücken der Bestie geschnallt war. Er zog sich hoch, um den baumdicken Beinen des Ungeheuers zu entgehen, die die letzten Standhaften in den Boden zu trampeln drohten. Der Mann war schon ein ganzes Stück hinauf, als ihn ein kurzer Wurfspeer durchbohrte.

Das Ungeheuer schwenkte den Kopf. Jetzt sah Narek aus nächster Nähe, was die Sichelklingen anrichteten. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Die Männer in der Reihe vor ihm starben binnen eines Herzschlags. Sie zu töten kostete das Monstrum nur ein ärgerliches Kopfschwenken. Es gab nun niemanden mehr, der zwischen ihm und dem Ungeheuer stand. Der Boden vor Narek war bedeckt von sich windenden Leibern. Die Bestie setzte einen Fuß auf einen Glockenkürass, und mit einem Ächzen, das fast wie ein verzweifelter Seufzer klang, verbog sich das Metall.

Narek hielt seine Standarte dem Ungeheuer entgegen. Den Löwen von Nari. Er durfte nicht weichen. Die Worte Lamgis und die Bitten Ashots klangen ihm noch in den Ohren. Wenn er zurückging, würde die Linie zerbrechen.

Rinnsale aus Blut perlten von der zerfurchten, grauen Haut des Ungeheuers. Einer der gestürzten Krieger erhob sich. Ein Mann mit einem prächtigen Rosshaarbusch auf dem verrutschten Helm. Ashot! Sein Freund streifte seinen Schild vom Arm, zog das Eisenschwert aus der roten Lederscheide und hieb auf eines der Beine des Ungeheuers ein. Ashot schrie ihm etwas zu, doch die Worte verklangen im Getöse der Schlacht.

Das Ungeheuer ließ sich von der Schramme an seinem Bein nicht aufhalten. Es stand nun unmittelbar vor Narek.

»Der Löwe von Nari weicht nicht vor dir zurück«, sagte Narek ziemlich kleinlaut.

Die goldgeschuppte Schlange schnellte vor, um nach ihm zu greifen, als er zur Seite gerissen wurde. Lamgi!

Narek hielt mit beiden Händen seine Standarte. Seine Füße gehorchten ihm nicht mehr. Sie waren wie gelähmt. Er vermochte sich keinen Zoll zu bewegen. Das Ungeheuer stürmte an ihm vorbei.

Ashot war jetzt bei ihm. Auch er griff nach dem Schaft der Standarte und stützte sich schwer darauf. »Gasse bilden!«, schrie er aus Leibeskräften. »Lasst das Ungeheuer durch! Versucht nicht es aufzuhalten.«

Tatsächlich öffnete sich die Schlachtlinie, und als hätten Ashots Worte einen Zauberbann auf die Kreatur gelegt, versuchte sie nicht nach links oder rechts auszubrechen, sondern stürmte mit einem lauten Trompetenstoß durch den Hohlweg, der sich inmitten der Menschenmassen gebildet hatte.

»Zurück, Männer! Zurück zur Böschung!«, rief Ashot.

Narek hielt sich an der Seite seines Kameraden. Auf der anderen Seite flankierte ihn Lamgi. Beide beschirmten ihn mit ihren Schilden. Narek schwenkte stolz den goldenen Löwen auf der Stange. »Folgt mir, Löwen von Nari«, rief er mit rauer Stimme. Sein Mund war trocken, Schweiß brannte ihm in den Augen, und die Knie wurden ihm weich, als er in das Flussbett blickte. Dutzende der Ungeheuer stürmten in blinder Panik den Flusslauf entlang oder rannten ihren eigenen Truppen entgegen. Einige waren allerdings auch durch den Schildwall gebrochen. Überall lagen Tote und Verwundete.

Der Unsterbliche erklomm vor ihnen die Böschung. Datames ging an seiner Seite, ein schmales, bluttriefendes Schwert in Händen. Narek hätte niemals gedacht, dass der bartlose Hofmeister auch ein Krieger war.