Endlich erreichte sie die Himmelsjurte, das Palastzelt ihres Vaters. Wie eine Glucke ihre Küken überragte sie alle Jurten des Wandernden Hofs. Sie stand auf einer weiten Holzplattform, die von mannshohen Rädern getragen wurde. Der Holzboden und das wuchtige Geländer, das ihn umspannte, waren von glänzend roter Farbe. Die Pfosten des Geländers ragten viele Schritt hoch und waren mit den Haarlocken der Feinde geschmückt, die der Unsterbliche Madyas in seinem langen Leben erschlagen hatte. Die Form der Jurte erinnerte an eine durchschnittene Zwiebel. Sie war von dunklem Blau, auf das Hunderte Perlen aufgestickt waren, was ihr den Namen Sternenjurte eingebracht hatte. Nur wenigen Menschen war es vergönnt, jemals das Innere des Palastzeltes zu sehen. Nahebei weideten die dreißig weißen Ochsen, die den Palast ihres Vaters durch das weite Grasland zogen.
Wer diese Jurte einmal gesehen hatte, der vergaß sie nie wieder. Sie war ein Mythos in ihrem Volk. Als Kind war Shaya gerne hierhergekommen. Jetzt fragte sie sich voller Sorge, was sie dort erwartete. Warum hatte ihr Vater Subai geschickt, um sie von Nangog zurückzuholen?
Am Eingang des Palastzeltes kauerte ein großer, silberner Wolf. Shaya hatte das Gefühl, dass er sie aus seinen Rubinaugen anstarrte. Er war ein Geschenk der Devanthar. Sie selbst hatte schon gesehen, wie der Wolf zum Leben erwachte und es duldete, dass ihr Vater auf ihm ritt. Vor langer Zeit war es dieser Wolf gewesen, der sie und die von ihr auserwählten Krieger auf magischen Pfaden nach Nangog geführt hatte. Er bewachte ihren Vater. An ihm vorbei würde kein Meuchler in die Sternenjurte gelangen.
Die Klappe der Jurte wurde zurückgeschlagen, kaum dass sie einen Fuß auf das rot lackierte Podest gesetzt hatte, auf dem das prächtige Zelt errichtet war. Warmer, blaugrauer Rauch zog aus dem Eingang in die kühle Dämmerung. Shaya kam spät, die Sonne war bereits hinter den Hügeln versunken, und nur ein letzter, silberner Lichtstreif kämpfte am Horizont seine verlorene Schlacht gegen die Nacht. Sie herzurichten hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte.
Entschlossen, sich keine Unsicherheit anmerken zu lassen, trat Shaya in die Jurte. Das Zelt war unnatürlich groß. Seine Kuppel wurde von rot lackierten Holzpfosten getragen. Farbenprächtige Teppiche bedeckten den Boden. Einige Feuerschalen mit rot glimmender Glut sorgten für Wärme. Ihr Vater und acht weitere Männer erwarteten sie. Subai war unter ihnen und der Heilkundige vom Seidenfluss. Die meisten anderen kannte sie auch. Sie standen in einer Gruppe zusammen und redeten. Erst als ihr Vater den Kopf hob und sie anblickte, verstummten die Gespräche. »Du kommst spät, Shaya. Die Sonne hat bereits ihr Haupt hinter den Hügeln zur Ruhe gebettet. Ist dies deine Art, mir Respekt zu zollen?«
»Ich bitte um Verzeihung, erhabener Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes«, brachte sie mit belegter Stimme hervor. An diesem Abend sollte sie ihn besser um gar nichts bitten.
»Tritt vor mich!«, befahl er mit harscher Stimme. »Ich will in deine Augen sehen, wenn ich mit dir über die ungeheuerlichen Vorwürfe spreche, die mir zugetragen wurden.«
Shaya war von seiner Stimme ganz und gar in Bann geschlagen. So rebellisch sie sonst war, ihrem Vater hatte sie sich nie widersetzen können. Jedenfalls nicht, wenn sie vor ihm stand. Sie war geflohen, war ausgewichen … Das war nun unmöglich. Alle Augen ruhten auf ihr, und sie hatte das niederschmetternde Gefühl, dass alle anderen wussten, was sie erwartete. Ihr Bruder Subai lächelte sie spöttisch an.
»Du weißt, dass eine Prinzessin der Ischkuzaia ihrem Volk gehört. Das Volk nährt dich. Deshalb musst auch du bereit sein, das Volk zu nähren, wenn deine Zeit gekommen ist.«
Sie sah ihren Vater mit schreckensweiten Augen an. Es durfte nicht …
»Dein schwerer Sturz gestern könnte schwerwiegende Folgen für deine Zukunft haben. Für die Zukunft aller Ischkuzaia. Jungfrauen sollten wilde Ritte meiden.«
Das durfte nicht wahr sein, dachte sie.
Madyas klatschte laut in die Hände. »Bringt den Tisch!«
»Bitte vergebt mir, allweiser Madyas, dass ich es wage, ungefragt das Wort an Euch zu richten«, mischte sich der alte Heilkundige ein. »Mir scheint es geboten, zunächst die Schulter Eurer Tochter zu behandeln. Sie leidet Schmerzen. Das wird der anderen Untersuchung nicht zuträglich sein.«
Ihr Vater zog ärgerlich die Brauen zusammen. »Was heißt nicht zuträglich? Sie hat jahrelang das Mannweib gespielt, dann soll sie jetzt gefälligst nicht zimperlich sein!«
»Bitte verzeiht, wenn ich Euch missverstanden haben sollte, allgewaltiger Unsterblicher.« Der Heiler wagte es nicht, ihrem Vater in die Augen zu blicken. »Ich hatte gedacht, dieser Abend sei der Suche nach den weiblichen Tugenden Eurer Tochter Shaya gewidmet. Unter dieser Prämisse wäre es ein Gebot der Höflichkeit, Eure Tochter auch wie eine Dame zu behandeln und nicht wie einen Steppenkrieger, der weder Furcht noch Schmerz kennt. Doch offenbar bin ich einem Missverständnis unterlegen und möchte unterwürfigst um Verzeihung für meinen Einwurf bitten.« Der Heilkundige sprach mit starkem Akzent, und es war schwer, seinen Worten zu folgen. Shaya war sich nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hatte. Hatte er es tatsächlich gewagt, zwischen all den schönen Worten eine unterschwellige Kritik an ihrem Vater zu verstecken? War der Alte lebensmüde? Was hatte er hier überhaupt zu suchen? Was wollte man von ihr? Wenigstens starrten die Ratsmitglieder nun nicht mehr sie an, sondern den Heiler, der sich solch ungeheuerliche Freiheiten gegenüber dem Unsterblichen herausnahm.
Das Gesicht ihres Vaters zeigte keinerlei Regung. Es herrschte atemlose Stille in der Sternenjurte.
»Knie nieder, Shaya«, sagte der Unsterbliche schließlich sehr leise. »Der große … Miau? So heißt du doch, nicht wahr? Miau? Belassen wir es dabei. Eure Namen sind immer so unnötig lang und schwer zu behalten.«
»Jeder Name, mit dem Ihr mich bedenkt, Unsterblicher, ist ein Ehrenname für mich«, entgegnete der Heiler mit einer Verneigung.
»Knie nieder!«, wiederholte ihr Vater streng.
Sie gehorchte, widerstrebend. Der Alte trat hinter sie. Seine Hände tasteten über den glatten Seidenstoff. Shaya keuchte. Nicht vor Schmerz. Umringt von diesen alten Männern und ihrem Bruder zu knien. In diesem Kleid. Wäre sie nackt, hätte sie sich kaum mehr gedemütigt gefühlt. Sie wurde sich bewusst, dass sich ihre Brustwarzen durch den dünnen Stoff abzeichneten. Beschämt hob sie den linken Arm, um ihre Blöße zu bedecken.
»Bitte haltet still, ehrenwerte Prinzessin.« Die dürren Finger des Heilers gruben sich mit überraschender Kraft in ihr Fleisch. Er tastete über ihr rechtes Schulterblatt. Die Fingerspitzen folgten den Knochenrändern. Ihr traten Tränen in die Augen. Gegen ihren Willen. Sie hob den Kopf und starrte in das Antlitz ihres Vaters, den all dies nicht zu rühren schien.
»Wäret Ihr so gut, den rechten Arm anzuheben, auch wenn es schmerzt?«
Shaya presste die Lippen zusammen. Ihre Tränen waren versiegt. Sie schwor sich, vor den alten Männern keine weitere Schwäche zu zeigen.
»Es wird weniger wehtun, wenn Ihr ausatmet, wenn ich Euch darum bitte.« Der Heiler legte eine Hand flach auf ihr Schulterblatt und griff mit der anderen nach ihrem rechten Oberarm.
»Bist du sicher, kräftig genug zu sein, um das zu tun, alter Mann?«, fragte ihr Bruder herablassend. »Soll ich nicht lieber an dem Arm ziehen, um ihn einzurenken?«
»Mein Herz weitet sich vor Freude ob dieses großmütigen Angebots.« Shaya spürte den warmen Atem des Heilers in ihrem Nacken, während er sprach. »Doch diese Aufgabe erfordert mehr Kunstfertigkeit als Kraft, ehrenwerter Prinz Subai.«
Der Heiler streichelte sanft über ihre Schulter. »Gleich, meine Prinzessin.«
»Ich finde, ein Seidenaffe sollte sich nicht in dieser Art über eine Prinzessin beugen«, sagte einer der Berater ihres Vaters in falschem Flüsterton, sodass jeder der Anwesenden seine Worte deutlich verstehen konnte. »Er sieht aus wie ein Rüde, der eine Hündin bespringt.«