Getäuscht?
Volodis Hände schlossen sich fest um die Bügel an der Seitenwand des Streitwagens. Länger als eine Stunde starrte er nun schon auf die Hügel auf der anderen Seite des trockenen Flussbettes. Seine Streitwagen blockierten den Übergang, der hier durch die zahllosen Karawanen geschaffen worden war, die in den letzten Wochen durch das Goldene Tor gekommen waren.
Auf den Hügeln standen Bogenschützen und blickten zu ihnen herüber. Irgendwo dort hinten waren Muwattas Streitwagen. Die Staubwolke war bis zur anderen Seite der Hügelkette gelangt. Dann hatte sie sich gelegt. Ein seltsames, graues Ungeheuer mit einem Turm auf dem Rücken war durch das Flussbett gelaufen. Die Satrapen hatten einige Pfeile auf das Untier abgeschossen, bis Volodi es ihnen verboten hatte. Er wollte nicht, dass die Bestie zu ihnen heraufkam. Die Pferde hatten Angst vor dieser Kreatur. Ein Ungeheuer zu reizen, das einen nicht beachtete, war dumm!
Volodi wünschte sich, der Unsterbliche hätte nicht all diese Satrapen bei den Streitwagen gelassen. Sie tuschelten über ihn. So laut, dass er es hören konnte.
Wieder wanderte sein Blick über die kargen Hügel. Sollte er angreifen? Sie waren weit in der Unterzahl. Wenn hinter der Hügelkette doppelt so viele Streitwagen warteten, wie sie selbst aufbieten konnten, und sie beim Angriff noch durch die Bogenschützen dezimiert wurden, gab es keine Hoffnung mehr auf Sieg.
»Volodi, schau!« Sein Wagenlenker deutete nach Osten, wo weit hinter Aarons Heer eine Staubwolke aufstieg.
Der Söldner fluchte. Hatte Muwatta seine Streitwagenschwadronen aufgeteilt? War es ein Trick, um ihn vom Übergang fortzulocken?
Unter den Satrapen lachte jemand auf. Spöttisch, herablassend klang das Gelächter. Volodi wusste, dass es ihm galt.
Wenn er hier abzog und die Hauptmacht Muwattas hinter den Hügeln lauerte, dann hatte er diesen Flügel kampflos dem Feind überlassen. Blieb er hier und dort hinten nahte Muwatta, hatte er den Unsterblichen Aaron dem Feind überlassen.
»Wir gehen dorthin, wo Hufe Staub aufwirbeln«, sagte er leise und suchte in seinen eigenen Worten die Kraft für den Befehl.
»Sollen wir nicht einen Späher hinüberschicken?«, fragte Mikayla. »Zu den Hügeln, meine ich …«
Volodi schüttelte den Kopf. »Ein einzelner Späher wäre nicht genug. Die Bogenschützen würden ihn nicht durchkommen lassen. Wir müssten zwanzig oder dreißig Streitwagen opfern.«
»Vielleicht die Satrapen?«
Zum ersten Mal, seit sie hier angekommen waren, lächelte Volodi. Mikayla war ein guter Kamerad. Er hatte den blonden Drusnier vom ersten Augenblick an gemocht. Ein paar Tage vor Mittsommer war er in ihr Lager gekommen. Kolja hatte ihn angemustert. Vor allem, weil der junge Krieger Drusnier war. Er war ein bisschen zu schlank, aber er bewegte sich wie ein erfahrener Kämpfer. Jeden Augenblick war er im Gleichgewicht. Immer auf der Hut. Mikayla erinnerte Volodi daran, wie er einst gewesen war, als er sich den Piraten der Aegilischen Inseln angeschlossen hatte.
Volodi seufzte. Wie wunderbar war sein Leben doch gewesen, als er nur ein einfacher Krieger gewesen war und keine Entscheidungen treffen musste, die den Ausschlag über Sieg oder Niederlage geben mochten. Er blickte versonnen zu der Staubwolke. Keine Entscheidung zu treffen machte es nicht besser. Er hatte lange genug gezögert. Er würde dorthin gehen, wo gekämpft wurde!
»Wir kehren um, Mikayla! Treib die Pferde an!« Volodi schwenkte den Arm. »Folgt mir!«
Er blickte nicht zurück.
Der Lügner
Bessos ging unruhig vor seinen Männern auf und ab. Er beobachtete die scharlachroten Feldzeichen. Warum ging es so langsam voran? War der Angriff zum Halten gekommen?
Hunderte Augen lasteten auf seinem Rücken. Er hatte die Männer so antreten lassen, dass seine Treuesten in der vordersten Reihe und an den Flanken des großen Blocks standen. Die er nicht kannte und auch die Zweifler standen tief in der Menschenmasse. Sie konnten nicht sehen, wie die Verwundeten vom Schildwall wegkrochen. Manchmal nur ein paar Schritt weit, um dann zu verrecken.
Bessos leckte sich über die Lippen. Sie waren trocken. Die Luft war voller Staub. Weit im Osten nahten Streitwagen. Ihnen standen nur noch die paar Heiden im Weg. Nicht mehr lange, und alles wäre vorüber. Der Unsterbliche Aaron hatte verloren! Bauern taugten eben nicht als Krieger.
Wieder blickte Bessos auf die scharlachroten Feldzeichen.
»Herr, wir müssen ihnen helfen«, rief einer seiner eigenen Leibwächter. Ein Mann mit buschigen Augenbrauen und einer eigentümlich kurzen Nase. Bisher war er immer loyal gewesen.
Bessos hob resignierend die Arme. »Ich habe dem Unsterblichen geschworen, nichts ohne seine Befehle zu unternehmen. Es sind dieser Barbar und Mataan, die uns in diese Lage gebracht haben. Sie haben vor der Zeit ihren Posten verlassen und den Schlachtplan durcheinandergebracht. Seht, was durch ihre Schuld geschehen ist! Wir werden es besser machen. Wir werden diejenigen sein, die diese Schlacht entscheiden. Habt noch ein wenig mehr Geduld.«
Einige der Männer nickten. Die meisten jedoch blickten beschämt zu Boden. Er verlor sie. Bessos konnte es regelrecht spüren. Was war nur plötzlich mit ihnen los? Wenn durch die neuen Gesetze des Unsterblichen die Bauern reich wurden, dann wäre es bald vorbei mit der Pracht des niederen Kriegeradels. Aaron wollte sie vernichten, und trotzdem wollten sie sich für ihn in die Schlacht werfen.
Ein junger Krieger, dem kaum der erste Flaum wuchs, taumelte aus der Schlachtreihe hervor. Er blickte direkt zu ihm herüber. Sein linker Arm blutete. Etwas im Blick des Jungen verriet Bessos sofort, dass es der war, dessen Ankunft er gefürchtet hatte. Er ging dem Krieger entgegen. Seine Männer sollten nicht hören, was gesprochen wurde!
»Bessos?«, rief der junge Krieger. Seine Stimme war nur ein trauriges Krächzen.
Der Satrap versteifte sich und reckte das Kinn vor. Er beschleunigte seine Schritte. Jetzt durfte er sich keinen Fehler leisten. Wieder blickte er auf die luwischen Feldzeichen. Waren sie ein Stück zurückgedrängt worden?
»Seid Ihr Bessos, Herr?«
»Vergeude deine Kraft nicht, um zu schreien, Junge, ich verstehe dich gut. Du bist verletzt.« Er sagte das in einem väterlichen Tonfall. »Hast du gekämpft?« Bessos blickte flüchtig über seine Schulter. Er war weit genug von seinen Männern entfernt.
»Ich …« Der junge Krieger blickte seinen Arm an, als bemerkte er erst jetzt, dass er verwundet war. »Der Unsterbliche schickt mich. Ihr müsst mit Euren Männern …«
»Erzähl mir keine Geschichten, Junge. Du musst mich nicht belügen. Du läufst fort.« Bessos stemmte die Arme in die Hüften und schob mit den Ellenbogen seinen Umhang auseinander. Er stand jetzt so dicht vor dem Jungen, dass er seinen Männern die Sicht auf ihn nahm. Bessos hatte nächtelang wach gelegen und sich überlegt, was er in dieser Situation tun würde.
»Ich bin kein Feigling. Ich …«
»Zeig mir dein Schwert«, zischte der Satrap. »Zeig mir das Blut auf der Klinge! Beweise mir, dass du gekämpft hast! Ich wette, es ist unbefleckt von luwischem Blut. Ich erkenne einen Feigling, wenn ich ihn sehe.«
Der überraschte Gesichtsausdruck des Jungen wich nun Zorn. »Wie könnt Ihr mich einen Lügner nennen!«
Bessos drehte sich leicht zur Seite, sodass seine Krieger gut sehen konnten, was nun geschah. Wie der Junge mit zornigem Gesicht sein Schwert zog.
Der Satrap griff nach seiner Waffe. Es war ein gutes, luwisches Eisenschwert. Nicht so eine jämmerliche Bronzeklinge, wie der Junge sie in der Hand hielt. Bessos schnellte vor. Für einen Beobachter musste es so aussehen, als pariere er einen Angriff.
Seine Leibwächter schrien auf.
Der Satrap machte einen Ausfallschritt und stieß dem Jungen sein Schwert in die Kehle. »Ein Meuchler!«, rief Bessos. »Die Luwier haben einen Meuchler geschickt!«
Seine Männer umringten ihn. Zwei stießen ihre Speere in den Bauch des sterbenden Jungen, um ganz sicherzugehen, dass er nicht aufstehen würde.