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Narek konnte es nicht mehr ertragen. Er wünschte, er wäre niemals dem Werber Aleksan gefolgt. Wie dumm er gewesen war zu glauben, eine Schlacht sei glorreich und ein Tummelplatz für Helden. Mit beiden Händen umklammerte er die Standarte mit dem Löwen. Wenn er an all das Gerede von den Löwen, die sie angeblich waren, dachte, wurde ihm ganz schlecht. Er war ein Lamm, das sich in ein Rudel Wölfe verirrt hatte. Und selbst diese Wölfe waren halb verrückt vom Schrecken der Schlacht.

»Haltet die Linie!«, rief Ashot wohl schon zum hundertsten Mal.

Dass er es nicht müde wurde … Es gab keinen Platz mehr zum Weglaufen. Sie waren eingekreist, wurden von der Mauer aus scharlachroten Schilden immer enger zusammengeschoben. Der Unsterbliche würde sicher überleben. Sonst wohl niemand. Sie hatten zu gut gekämpft, um auf Gnade hoffen zu dürfen. Wenn einer ihrer Männer fiel und Narek durch die Lücke in der Linie einen kurzen Blick auf die Luwier erhaschte, sah er stets nur hasserfüllte Gesichter. Sie würden niemanden verschonen! Besonders einer war ihm aufgefallen. Ein Riese, der mit einer Keule kämpfte und wie besessen auf Helme und Schilde eindrosch. Wer ihm begegnete, der starb.

Narek schluckte. Nie hatte er den Tod so nahe gefühlt. Er wollte nicht zerschmettert werden. Ein glatter Stich wäre gut. Etwas, das schnell ging. Ringsherum schrien Tausende. Er hatte Geschichten darüber gehört, was nach den Schlachten geschah. Erst hier im Heerlager. Draußen in der Welt, wo Schlachten die Angelegenheit von Helden waren, erzählte man nicht darüber, wie Knochensäger Glieder abtrennten, die aufgedunsen von Eiter waren, vom Schlachtfeldfieber, das Hunderte dahinraffte, obwohl das Töten längst aufgehört hatte.

»Haltet die Linie!«, rief Ashot erneut. »Verstärkung kommt! Seht die Staubwolke im Westen. Unsere Streitwagen kommen zurück. Haltet die Linie!«

Narek schämte sich. Er stand mit dem Rücken zu dem Unsterblichen, aber mit dem Herzen hatte er die Linie verlassen, die inzwischen ein Kreis geworden war, in dem sie alle gefangen waren. Aber Volodi war auf dem Weg zu ihnen. Wenn es einen gab, der diesen Kerl mit der Keule aufhalten konnte, dann der Drusnier. Der Mann, der über den Adlern schritt.

Lamgi drehte sich zu ihm um. Wer nicht in den ersten beiden Reihen kämpfte, blickte zur Staubwolke. Sein Kamerad hatte seinen Dolch gezogen. Jene Waffe, die im Tempel gesegnet worden war. Die Klinge glänzte silbern, nicht golden. Es war eine Waffe aus Eisen! Er musste reich sein! Klug, den Dolch zu ziehen. Bald wäre das Gedränge so groß, dass niemand mehr ein Schwert schwingen könnte. Hoffentlich half der Segen aus dem Tempel. Sie konnten jede Hilfe gebrauchen.

»Ich übernehme deinen Platz«, rief er, um den Schlachtenlärm zu übertönen.

Narek schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut. Volodi kommt. Ich habe keine Angst mehr.«

Lamgi beugte sich zu ihm vor, sodass seine Lippen fast Nareks Ohr berührten. »Ich muss Aaron etwas sagen. Es ist wichtig. Lass mich hinter ihn.«

Lamgis Augen wirkten noch härter als sonst. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als kämpfe er gegen Schmerzen an.

Narek trat zur Seite.

Sein Kamerad hielt den Dolch irgendwie seltsam. Er presste die Waffe eng an sein Bein. Niemand hatte sie gesehen. Er … Narek ließ die Standarte los und fiel Lamgi in den Arm. »Was tust du da?«

Lamgi war erstaunlich stark, obwohl er so hager war. Er drückte Nareks Arm langsam zur Seite. Er würde das Kräftemessen gewinnen, es sei denn …

Narek riss den Arm seines Gefährten mit einem Ruck auf sich zu. Er trug einen Bronzepanzer, was konnte schon geschehen. Er …

Die Klinge schnitt so leicht durch die Bronze, als trüge er nur eine Tunika. Das Messer fuhr ihm in den Bauch. Dunkles Blut quoll über die goldene Rüstung. Lamgi wirkte genauso bestürzt wie er. Er hatte das Messer losgelassen. Aber er würde es sich zurückholen, das wusste Narek. Dies war eine besondere Klinge. Sie war dazu geschaffen, die Rüstung eines Unsterblichen zu durchdringen.

Er packte den lederumwickelten Griff und zog die Waffe mit einem Ruck aus der Wunde. Für eine weitausholende Bewegung war kein Platz. Er riss den Arm einfach gerade hoch, sodass der Dolch in steilem Winkel über ihn hinwegflog. Zwei Schritt hinter ihm standen die Luwier, die Aaron bestürmten. Wenn der Dolch dorthin fiel, war er für Lamgi außer Reichweite.

Lamgi war nicht außer sich. Er erschien ihm eher traurig als zornig. Er trat auf ihn zu und versetzte Narek einen kurzen, heftigen Schlag auf den Hals. »Es tut mir leid!«

Narek rang um Luft. Er bekam keinen Atem mehr. Warmes Blut rann seine Beine hinab.

Lamgi nahm die Standarte auf, stellte sich dicht neben ihn und hielt ihn fest.

Narek lehnte noch immer mit dem Rücken gegen den Unsterblichen. Er warf den Kopf schwach zur Seite. Es fühlte sich an, als stecke ihm ein Klumpen im Hals. Er musste nur feste genug einatmen, damit sich dieser Kloß bewegte. Dann bekäme er wieder Luft.

Die Staubwolke, die von Westen kam, war schon ganz nah. Volodi kam. Alles würde gut enden.

Narek dachte an Rahel und Daron. So gerne hätte er den beiden von seinen Abenteuern erzählt. Davon, wie er Rücken an Rücken mit dem Unsterblichen gekämpft hatte.

»Die Linie halten!«, hörte er Ashot rufen.

Nareks Augen wollten ihm nicht mehr gehorchen. Sie rollten nach oben, sodass er in den wunderbar blauen Himmel blickte.

Er hatte die Linie gehalten, dachte er.

Und keiner hatte es gesehen.

Nach Süden

Volodi sah die Speerträger von Bessos in guter Ordnung hinter der Schlachtlinie stehen. Wie es schien, war der Schildwall durchbrochen, doch die Reserven würden jeden Augenblick zurückschlagen. Im dichten Handgemenge waren seine Streitwagen eher hinderlich als von Nutzen. Die leichten Wagen waren dazu geschaffen, ungedeckte Flanken anzugreifen. Doch dort würden die Schlachtlinien bald zu einem unentwirrbaren Knäuel werden. Seine Aufgabe war es, sich der Übermacht Muwattas zu stellen und zu verhindern, dass der Erzkönig bis zum Schildwall Aarons gelangte.

»Nach Süden ausweichen!«, befahl er Mikayla.

Der Wagenlenker bedachte ihn mit einem skeptischen Blick, sagte aber nichts.

Sie passierten das Frauenlager. Auf den Erdwällen standen Hunderte Weiber und jubelten ihnen zu. Weit im Osten sah er Muwattas Wagen als eine feine dunkle Linie über dem ockerfarbenen Boden. Sie mussten die Jaguarmänner bereits niedergemäht haben.

Der Fahrtwind spielte mit seinem langen Haar. Schaum flog von den Mäulern der Wagenrösser. Sie mussten ihr Tempo zurücknehmen oder die Pferde wären zu ausgepumpt für den Angriff auf Muwatta.

Er riss den Arm hoch. »Langsamer!«, rief er gedehnt.

Mikayla zog an den Zügeln. Einer der Hengste wieherte. Die Tiere brauchten etwas zu saufen. Diese Einöde war kein Land für Pferde. Muwattas Gäulen würde es auch nicht besser gehen.

In langsamem Trab zogen sie unter den Erdwällen hindurch. Manche der Damen warfen Blumen zu ihnen herab. Volodi musste unvermittelt lächeln. Das waren Huren da oben. Jedenfalls die meisten. Und er nannte sie in Gedanken Damen. Das war Nareks Werk. Amüsiert dachte er daran, wie sehr der Bauer darauf bestanden hatte, dass er nicht von Huren sprach. Hatte er wirklich nicht begriffen, was im Frauenlager vor sich ging? Oder wollte er einfach nur die Welt schöner reden, als sie war?

Ashot hatte Volodi erzählt, dass Narek die Standarte der Löwen von Nari tragen würde. Der Drusnier blickte hinüber zum Kampfgewühl. Der Unsterbliche hatte an jede der Tausendschaften ein Feldzeichen ausgeben lassen. Viele wurden nicht mehr hochgehalten. Hoffentlich ging es dem kleinen Bauern gut. Männer wie er gehörten nicht auf ein Schlachtfeld.

Geschmolzene Luft

Der Unsterbliche zog sich an einem zersplitterten Wagenrad hoch. Jeder Atemzug wurde von einem stechenden Schmerz begleitet. Mindestens eine seiner Rippen war gebrochen, und seine Brust fühlte sich an, als sei ein Lederriemen darum geschlungen, der langsam enger gezogen wurde.