»Ja«, entgegnete Mikayla einsilbig und ließ noch einen Pfeil von der Sehne schnellen.
Das erklärte alles! Volodi zog den Bogen durch. Der nächste Wagen war noch dreißig Schritt entfernt. Nein, eher zwanzig. Volodi schoss und wartete kurz. Nichts! Scheinbar hatte er nicht getroffen.
Jetzt sirrten auch ihnen Pfeile entgegen. Mikayla lehnte sich leicht zur Seite, augenscheinlich darauf bedacht, die Zügel um seine Hüfte nicht zu bewegen. Ein Geschoss verfehlte ihn nur knapp. Der Wagen rumpelte über einen Stein hinweg. Es gab einen Schlag, der Volodi fast von der Plattform geworfen hätte. Er griff nach der Seitenwand.
Sie passierten den ersten luwischen Streitwagen. So nah, dass er den anderen Wagenlenker mit einem langen Speer hätte treffen können. Der Mann hatte sich eine schillernde Feder in seinen Schläfenzopf geflochten. Ein Glücksbringer?
Weitere Wagen kamen ihnen entgegen. Im aufgewirbelten Staub waren sie nur undeutlich zu sehen. Hinter ihnen schrien Krieger auf. Er hörte Holz splittern.
Ein kurzer Wurfspeer bohrte sich in die lederne Seitenwand ihres Wagens. Die eiserne Spitze hatte das Leder ganz durchdrungen. Zwei Fingerbreit weiter, und sie hätte sein Knie getroffen.
Plötzlich brach ein Wagen aus dem Staub hervor, keine zehn Schritt von ihnen entfernt. Er raste genau auf sie zu.
Volodi fluchte. Er wollte nach den Zügeln greifen, doch solange sie um Mikaylas Hüften geschlungen waren, konnte er das Gespann nicht richtig lenken. Nur einfach in die Zügel zu greifen war zu gefährlich.
»Ich hasse größenwahnsinnige Drusnier«, fluchte er, kletterte über die Wagenfront hinweg und sprang auf die Deichsel. Er warf sich vor und griff mit beiden Händen in die Mähnen der Pferde, um sie zur Seite zu lenken. Das war eine Verzweiflungstat, aber immer noch besser, als sein Leben weiter den Hüftschwüngen von Mikayla anzuvertrauen.
Der Pferde schwenkten nur langsam nach links. Es würde knapp werden, dem Wagen auszuweichen.
Volodi sah, wie der luwische Bogenschütze auf ihn zielte. Der Streitwagen konnte nicht ausweichen. Sein Lenker lag vornübergesunken auf der Frontwand des Wagens. Volodi duckte sich so gut es ging zwischen die Rösser, um ein kleineres Ziel zu bieten.
Die beiden Gespanne verfehlten einander nur um eine Handbreit. Sie fegten so dicht am anderen Wagen vorbei, dass sich die Räder kurz berührten und Funken aus den eisernen Radreifen schlugen.
»Du bist ein guter Wagenlenker«, schrie Mikayla und grinste frech. »Ich würde vorschlagen, ich übernehme das Schießen, und du bringst uns aus dem Getümmel heraus.«
Volodi lachte auf und wäre fast von der schwankenden Deichsel gerutscht. Er klammerte sich in den Mähnen fest und hielt die Pferde auf einem geraden Kurs. Mikayla schoss wie ein Daimon, und als sein Köcher leer war, bediente er sich bei den leichten Wurfspeeren.
Vor ihnen klärte sich der Staub. Volodi ließ die Pferde langsamer werden und sprach beruhigend auf sie ein. Schaum troff von ihren Mäulern. Ihre Augen waren angstweit.
»Wir haben ihre Linie durchbrochen«, rief Mikayla. »Ich sehe keine Wagen mehr vor uns. Aber da kommen Krieger gelaufen.«
Volodi fluchte. Kamen denn immer noch mehr Luwier! Die Pferde blieben stehen. Rechts und links von ihnen tauchten weitere ihrer Streitwagen aus der Staubwolke auf. Es waren weniger, als Volodi gehofft hatte. Nicht viele hatten es geschafft, die Luwier auf den Flanken zu umgehen.
Mikayla zog einen Wurfspeer aus dem Köcher. »Wer ist das?«, flüsterte er und deutete voraus.
Volodi blickte auf abgerissene Gestalten mit langen Jagdbögen. Er sah in hagere, harte Gesichter. Die Krieger trugen abgewetzte Tuniken und waren über und über mit Staub bedeckt. Sie näherten sich in einem ausdauernden Trott. Zwischen ihnen entdeckte Volodi einen Greis mit langem, zotteligem Bart, der offensichtlich keine Mühe hatte, mit den anderen Läufern mitzuhalten. Die fremden Krieger hatten etwas Wölfisches an sich.
Der Greis hob den Arm und grüßte Volodi. »Ist der Kampf schon vorüber?« Er keuchte schwer und stützte sich mit seinen Händen auf die Knie.
Volodi hatte Schwierigkeiten, den Alten zu verstehen. Der Greis sprach mit einem seltsamen Akzent.
»Wer bist du dich?«
Er klopfte sich auf seine Brust. »Ich bin Gatha, der Hüter dieser Berge. König Geisterschwert hat sein Blut vergossen, um uns zu helfen. Wir sind hier, um unsere Schuld zu begleichen und unser Blut für seines zu geben. Wir sind hier, um Luwier zu töten.«
Volodi hatte nicht alles verstanden, aber sie schienen Verbündete zu sein. »Wir können eure Hilfe gut gebrauchen. Wir werden gemeinsam ihre Streitwagen vernichten.«
Mikayla neben ihm hüstelte leise. »Sie sind durchgebrochen«, sagte er in der Zunge Drusnas. »Sie werden längst den Schildwall erreicht haben.«
»Sind sie geflohen?«, fragte der Alte enttäuscht. »Was sagt der Kerl?«
»Hast du dich keine Sorgen. Geh dich mit deinen Männern geradeaus. Ich nehme mich meine Wagen und von Seiten.« Volodi ballte die Rechte langsam zur Faust. »Werden wir sie zerquietschen.«
»Zerquetschen? Das ist gut.« Der Alte zupfte zerstreut eine Klette aus seinem Bart, dann atmete er tief durch und schrie aus Leibeskräften: »Mir nach!«
»Aufsitzen!«, rief Volodi den übrig gebliebenen Kriegern seiner zusammengeschmolzenen Streitmacht zu. »Geht euch über Flanken! Los!« Mit diesen Worten stieg er auf seinen eigenen Wagen und griff nach den Zügeln.
»Was verstehe ich nicht, Volodi?«, hakte Mikayla nach. »Die Luwier sind längst bei unserer Schlachtlinie angekommen.«
Volodi ließ die Zügel knallen. »Als wir zum Angriff gefahren sind, waren die Zinnernen in der letzten Reihe unserer Schwadronen. Was glaubst du warum?«
»Um aufzupassen, dass sich von den Adeligen niemand verdrückt?«
»Auch, aber vor allem, um zu verteilen, was ich Datames gestern Abend gestohlen habe.«
Mikayla sah ihn überrascht an. »Du hast den Hofmeister bestohlen?«
»Ich habe einige Tausend seiner Fußangeln auf die Seite geschafft. Er hatte so viele aufgehäuft. Ich glaube, er hat es nicht einmal gemerkt. Die Zinnernen haben sie auf ihren Wagen gehabt und hinter sich ausgestreut, als Muwattas Streitwagen in Sicht kamen.« Volodi lachte. »Ich glaube, er wird nicht viel Freude daran gefunden haben, unsere Wagenlinie zu durchbrechen. Und ganz sicher werden nicht viele seiner Streitwagen bis zum Schildwall durchgekommen sein. Pferdehufe und Fußangeln, das verträgt sich nicht.« Volodi wechselte gut gelaunt in die Sprache Arams. »Auch Mann von Drusna kann sich machen Tricks.«
Eine neue Welt
Artax stieß sein Schwert durch den Brustpanzer eines Gardisten und zog den Arm zurück. Nicht schnell genug. Ein Speer schrammte über die ungeschützte Stelle oberhalb seiner Armschiene. Er war erschöpft und hatte das Gefühl, dass die Schlacht schon einen ganzen Tag dauerte. Dabei hatte die Sonne noch nicht einmal den Zenit erreicht.
Seine Schar war auf vielleicht hundert Mann zusammengeschrumpft. Sicher kämpften noch andere Teile seines Heeres, aber er war von den übrigen Truppen abgeschnitten worden, als die Gardisten Muwattas rechts und links von seiner Stellung den Schildwall durchbrochen hatten.
Ashot an seiner Seite machte den Männern immer wieder Mut und hielt sie dazu an, die Reihe zu halten. Selbst wenn jemand hätte fliehen wollen – es gab keinen Weg zu entkommen.
Sie hatten einen Kreis gebildet und widersetzten sich verzweifelt den unablässigen Angriffen der Luwier. Ihre Feinde wussten, wie nahe der Sieg war. Immer enger wurde sein letztes Trüppchen Aufrechter zusammengedrängt. Nur vor ihm war ein wenig mehr Platz. Zu viele Männer waren unter seinem verwunschenen Schwert gestorben.
Auch vor Datames hatten die Luwier Respekt. Sein Hofmeister hatte sich als ein überragender Krieger erwiesen. Doch nicht einmal ihm war es gelungen, sich bis zu dem Hünen mit dem Wolfsfell durchzuschlagen. Auch ihre Feinde hielten die Reihen geschlossen.