»Sieh mich an!«, sagte Išta ein wenig leiser, und doch hatte Artax keinen Zweifel daran, dass jeder auf den beiden Ufern sie deutlich verstand.
Ein Zauberbann lähmte seine Beine. Gegen seinen Willen drehte er sich zu der Göttin um.
»Du hast dir deinen Sieg heimtückisch erschlichen, Aaron von Aram, indem du mehr Krieger auf dieses Schlachtfeld geführt hast, als dir von den Göttern zugebilligt worden waren. Fünfzigtausend hätten kämpfen dürfen, doch du hast noch ein Aufgebot von Bogenschützen aus den Bergen Garagums in den Kampf befohlen. Und jene Männer waren es, die die Streitwagen Luwiens aufgehalten haben.«
Artax blickte zu der zornigen Göttin auf, unfähig etwas zu sagen. Er sah den Hass in ihren Augen. Den unbedingten Willen, die Niederlage Luwiens nicht hinzunehmen und ihn zu vernichten.
»Ich klage dich an, die Götter betrogen zu haben, die festgelegt hatten, zu welchen Bedingungen diese Schlacht ausgetragen werden sollte. Und ich fordere deinen Tod!«
Sie zog ihr Schwert, löste sich aus der Menge und trat dicht vor ihn hin.
Artax wollte etwas sagen, doch seine Zunge war steif wie Holz.
»Genug, Schwester.« Wie aus dem Nichts erschien der Löwenhäuptige neben Išta und griff ihr in den Schwertarm.
»Ich werde nicht dulden, dass ein Götterfrevler ohne Strafe bleibt«, keifte Išta außer sich vor Zorn. »Lass von mir ab, Bruder!«
»War es nicht so, Schwester, dass Muwatta schon vor der Schlacht den Satrapen Bessos und dessen Krieger auf seine Seite gezogen hat? War nicht er derjenige, der versucht hat, die von uns gesetzte Ordnung zu hintergehen? Alle Jäger und Hirten zusammen, die der Schamane Gatha in die Schlacht führte, gleichen noch immer nicht die Zahl der Männer aus, die dem Unsterblichen Aaron durch Verrat gestohlen wurden. Es ist also ganz gewiss nicht Aaron, dem unser Zorn gelten sollte.« Der Löwenhäuptige blickte das Flussbett hinab, als gäbe es dort etwas, das vor Artax’ Blicken verborgen blieb. »Sollen unsere Brüder und Schwestern entscheiden, wer von den beiden Unsterblichen ein Betrüger ist.«
Išta folgte dem Blick des Löwenhäuptigen. Sie verharrte reglos, dann plötzlich verhärtete sich ihr Antlitz. »So sei es«, sagte sie leise, wirbelte herum und trennte Muwattas Haupt mit einem einzigen Hieb vom Rumpf.
Da hast du deine Rache, erklang die Stimme des Löwenhäuptigen in Artax’ Gedanken. Und nun vergiss die Ischkuzaia-Prinzessin.
»Niemals«, murmelte Artax.
Du hast heute eine Provinz für dein Reich hinzugewonnen und dir erstritten, im Gelben Turm vor die Götter treten zu dürfen. Lass ab von Shaya oder all deine Kämpfe waren vergebens.
»Warum habt ihr sie Muwatta überlassen? Ein Unsterblicher darf doch nicht …«
Er wollte sie nur für eine Nacht.
Artax blickte zu Išta, doch sie antwortete ihm nicht.
Es war ein Ritual. Und es ging darum, dich zu demütigen. Muwatta wollte kein Kind von ihr. Wollte keine Dynastie aus dem Blut Unsterblicher begründen.
»Das will ich auch nicht!«
Und doch würde es so kommen. Du willst ein Leben mit ihr, und ihr würdet Kinder haben. Dies darf nicht geschehen!
Artax fühlte sich, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. Er brachte kein Wort mehr heraus. Tränen ließen seinen Blick verschwimmen. Er dachte an die eine Nacht unter den Zwillingsmonden auf dem Rücken des Wolkensammlers. An Shayas Lachen. Den seltsamen Hüpftanz, den sie ihm gezeigt hatte. An ihre zarte Haut und ihre Küsse.
Du hast Tausende Familien an diesem Tag ihrer Väter beraubt, um deine Schlacht zu schlagen. Du hast deinen Bauern Versprechungen gemacht, die diese Welt verändern werden, wenn du dein Wort einlöst. Sie hoffen auf dich. Nur du kannst ihre Träume wahr werden lassen. Wiegt all das leichter als deine Liebe zu dieser Prinzessin? Suche sie, und ich werde dich durch einen anderen ersetzen.
Išta deutete mit ihrem blutigen Schwert auf die Reihen der Luwier. »Muwatta hat gegen das Wort der Götter aufbegehrt. Er hat Luwien Schande gemacht. Doch sehe ich einen unter euch, der wie ein strahlender Stern in finsterster Nacht ist. Einen, dessen Ruhm heute über das Maß der Sterblichkeit hinausgewachsen ist. Komm zu mir herab, Labarna. Du wirst künftig der Unsterbliche sein, der Luwien zu neuem Ruhm führt und uns diesen Tag vergessen lassen wird.«
Jubel brandete unter den Luwiern auf. In den Augen seiner Leute hingegen sah er die Angst. Artax verstand sie. Der Mann, der nun vor Išta trat, war jener grauenvolle Hüne, der Dutzende seiner Bauern erschlagen hatte. Labarna also hieß er. Er würde sein Reich sicherlich nicht in eine Ära des Friedens führen.
Der Löwenhäuptige sah ihn noch immer abwartend an. Wirst du all die Männer, die um deinetwillen starben, verraten?
Artax blickte erneut zu den Überlebenden, die auf der Böschung standen. Zu Mataan, dem Fischerfürsten, Ashot, seinem Jugendfreund, den Barbaren Kolja und Volodi, der sich gleichfalls zu den Schaulustigen gesellt hatte, und all den anderen. Ihrer aller Blicke ruhten auf ihm. Er konnte sich nicht gegen sie wenden! Durfte keine Entscheidung treffen, die den Opfergang Tausender sinnlos werden ließ.
»Ich werde Shaya niemals vergessen«, sagte er und hatte dabei das Gefühl, dass jedes seiner Worte wie scharfkantiges Glas war, das bis tief in seine Seele schnitt. »Aber ich verspreche, ich werde nicht nach ihr suchen.«
Dämmerung
Shaya kauerte zwischen den Ziegen und beobachtete, wie das letzte Rot der Dämmerung hinter den Bergen weit im Westen verglühte. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie die Muße gehabt, jeden Abend den Sonnenuntergang zu betrachten. Zuzusehen, wie das Licht dem Dunkel wich, und darüber nachzugrübeln, dass dies die Geschichte ihres Lebens war. Muwatta hatte sie ins Dunkel gestürzt. Sie hatte all das, was er ihr angetan hatte, mit wachem Verstand erlebt und danach entschieden, die Verrückte zu spielen. So wurde sie in Frieden gelassen und nicht mehr ständig beobachtet.
Mit der Nacht kam die Kälte. Sie schlang die Arme um die Knie und wippte auf und ab. Die Ziegen, mit denen sie eingesperrt war, drängten sich enger zusammen. Die Tiere mieden sie.
Sie rieb sich mit den flachen Händen über die Arme. Es half nicht viel. Die Nächte waren schlimm. Aber sie würde auch das überstehen. Die Wunden der Nacht auf der Zikkurat waren verheilt. Zumindest die äußerlichen … Sie kam wieder zu Kräften.
Leise Schritte näherten sich. Kara. Shaya sah die Schattengestalt der jungen Priesterin. Jeden Abend, wenn es dunkel war, schlich Kara sich zum Ziegenstall und brachte ihre eine Holzschale mit Essen. Mal Brei, mal Brotreste und Käse oder etwas gekochtes Gemüse. Vor Sonnenaufgang holte sie die Schale wieder zurück.
Anfangs hatte die Priesterin noch versucht, mit ihr zu sprechen. Inzwischen aber hatte sie es aufgegeben. Sie stellte das Essen ab und eilte wieder davon. Sie konnte sich für eine Priesterin erstaunlich leise bewegen.
Shaya holte sich die Schale. Eine dicke Fleischbrühe schwappte darin. Sie setzte das Holz an die Lippen und trank in gierigen, langen Zügen. Die Brühe war sogar noch ein wenig warm. Sie würde ihr helfen, über die Nacht zu kommen.
Zuletzt leckte sie die Schale aus und war immer noch nicht satt, als sie damit fertig war.
Obwohl es dort am kühlsten war, kauerte sie sich vor das Gatter, das den Stall verschloss, und spähte zwischen den Holzstäben zu den Bergen, die sich als schwarze, gezackte Linie unter dem Licht der Sterne und der schmalen Mondsichel abzeichneten. Sie würde fliehen, wenn sie noch ein wenig mehr zu Kräften gekommen war. In zwei Wochen, vielleicht auch in drei.
Zu lange hatte sie darauf gehofft, doch noch gerettet zu werden. Sie hatte gewusst, dass es unwahrscheinlich war. Und dennoch war die Hoffnung nicht ganz erloschen, bis sie zur Spitze der Zikkurat gestiegen war.
Sie wusste, welches Schicksal sie hier erwartete. Luwien wollte sie nicht mehr. Muwatta hatte sie nur benutzt, um Aaron demütigen zu können. Sie würden sie im nächsten Frühjahr opfern. Und niemand würde ihr eine Träne nachweinen, außer Kara vielleicht. Und Aaron konnte sie nicht holen. Sie zweifelte nicht daran, dass der Unsterbliche sie liebte. Aber ihre Liebe konnte niemals Erfüllung finden. Er würde nicht kommen. Sie war auf sich allein gestellt. Sie schuldete niemandem mehr etwas.