Sie blickte zu der Schattenlinie der Berge. Zwei Wochen noch, vielleicht drei … Wie würde das Leben aussehen, das sie erwartete?
Kriegsbeute
Volodi bückte sich unter dem Schutzdach aus Segeltuch hinweg und trat in die Dämmerung hinaus. Er hatte einige Verwundete besucht. Überall entlang der Uferböschung waren Sonnensegel aufgestellt worden, um den Verwundeten Schatten zu spenden.
Der Drusnier war erschüttert, wie viele der Zinnernen in dieser letzten Schlacht gefallen waren. Nicht einmal die Hälfte der Männer würde nach Nangog zurückkehren. Wenn sie überhaupt dorthin wollten. Gerade unter den Verwundeten sprachen viele davon, zurück ans Meer zu gehen. Das Versprechen Koljas, in der Goldenen Stadt einen Ort zu erschaffen, an dem kein Söldner in der Gosse landen würde, um wie ein räudiger Hund zu verrecken, schien in der Gluthitze der Ebene von Kush an Verlockung verloren zu haben.
Auch Volodi wusste nicht, wohin er gehen sollte. Manchmal dachte er an Quetzalli. Aber war es nicht närrisch, nach einem Weib zu suchen, das hinter hohen Tempelmauern versteckt wurde und nicht ein einziges Wort seiner Sprache beherrschte? Womit wollten sie ihr Leben ausfüllen, wenn sie sich nicht auf ihrem federgeschmückten Lager liebten? Er vermisste Drusna. Die endlosen Wälder. Das Raunen des Windes in den Wipfeln. Den Geruch von frisch gemähten Wiesen.
Er ging nach Süden, fort vom Schlachtfeld und dem Gestank nach Verwesung, der sich bereits ausbreitete. Tausende Fliegen summten. Zwielichtige Gestalten huschten zwischen den Toten umher, obwohl Aaron Wachen hatte aufstellen lassen. Plünderer. Darunter viele Weiber aus dem Frauenlager. Wehe den Verwundeten, die noch keiner gefunden hatte und die zu schwach waren, um Hilfe zu rufen. Für sie würde es eine schreckliche Nacht werden. Vielleicht könnte er ein paar Kameraden überreden, mit ihm auf dem Schlachtfeld nach Überlebenden zu suchen. Viel Hoffnung hatte er allerdings nicht. Nach diesem Tag waren sie alle zu Tode erschöpft.
Volodi beschleunigte seine Schritte, um dem Gestank des Schlachtfelds zu entgehen. Entlang des Weges zum Magischen Tor waren Fackeln und Öllampen aufgestellt worden. Schon verließen die Ersten das Schlachtfeld.
Ein wenig abseits entdeckte er eine Schattengestalt auf einem flachen Hügel. Einer der Jaguarmänner? Er wollte ihnen danken. Ihr selbstloser Einsatz hatte ihm die Zeit erkauft, Muwattas Streitwagen doch noch zum Kampf zu stellen.
Er wandte sich von den Lichtern ab und ging ein Stück gen Westen, bis er an eine flache Mulde gelangte. Dorthin hatte man am späten Nachmittag bereits Hunderte Tote gebracht. Aaron hatte befohlen, dass jeder Mann in der Erde bestattet werden sollte. Tief genug, dass die Toten nicht von streunenden Hunden und Füchsen ausgescharrt werden konnten.
Volodi seufzte. Und wieder hatte ihn der Geruch des Schlachtfeldes eingeholt. Und das Summen der Fliegen.
Die Lichtverhältnisse waren schlecht. Es stand nur ein schmaler Sichelmond am Himmel. In manchen Gegenden sprach man in solchen Nächten vom Meuchlermond.
Entlang der Senke mit den Toten kauerten halb nackte Gestalten, denen Säcke über die Köpfe gezogen worden waren.
»Es ist schön dich zu sehen, Hauptmann. Ich hatte schon nach dir gesucht.« Eine dunkel gekleidete Gestalt erhob sich zwischen den Kauernden und kam auf ihn zu. Ein Katzenmann, der die Sprache Arams zwar mit seinem schrecklichen Akzent verunstaltete, aber ganze, richtige Sätze bildete.
»Du bist Nika … Nakhu …«
»Necahual«, half ihm der Zapote aus. »Es zeugt von wenig Respekt, wenn man sich die Namen seiner Verbündeten nicht merkt.« Der Krieger bleckte die Lippen, und seine spitz gefeilten Eckzähne leuchteten fahl im Mondlicht.
Volodi straffte sich. Er würde mit diesen Zapote nie warm werden. Gut, wenn sie bald verschwunden wären! »Ich mich wollen sagen Danke. Habt ihr euch gut gekämpft«, sagte er mit wenig Enthusiasmus.
Necahual lachte. »Du willst dir dafür danken, dass wir uns bekämpft haben? Wie führst du deine Männer, wenn du so redest? Tun sie manchmal, was du möchtest? Oder befolgen sie genau deine Worte?«
Das war genug! Dieser Kerl … Wofür hielt er sich? Er würde gehen, entschied Volodi. Mit diesem Wilden konnte man nicht vernünftig reden. »Nur eine Sache noch.« Er deutete auf die kauernden Gestalten. »Wer ist sich das?«
»Unsere Kriegsbeute«, erklärte Necahual freimütig. »Blonde Männer, die auf den Streitwagen kämpften. Leider gibt es im Heer Luwiens nur sehr wenige Krieger mit Goldhaar. Wir ziehen ihnen Tuchbeutel über den Kopf, die in ein Kaktusgift getaucht sind. Es lähmt den eigenen Willen. So kommen sie mit uns, ohne Ärger zu machen.«
»Das geht sich nicht. Das wird der Unsterbliche nicht nix wollen. Das …«
»Ich hatte auch nicht vor, ihn mit einer Entscheidung über unsere Beute zu belasten. Niemand wird nach diesem Tag dreißig Männer vermissen.« Der Zapote deutete auf den Leichenhaufen in der Senke. »Keiner hat nachgezählt, wie viele diesen Tag überlebt haben. Eure Helden werden zu Tausenden in namenlosen Gräbern liegen.«
»Ihr wollt sie sich zu euren Blutaltären bringen und schneiden auf ihr Herz? Barbaren ihr!«
Necahual gab einen zischenden Laut von sich. »Du wagst es, mich einen Barbaren zu nennen? Nach diesem Tag?« Der Zapote deutete gen Norden zum Schlachtfeld. »Was dort heute geschehen ist, nenne ich Barbarei! Mein Volk kennt solche Gemetzel nicht. In unseren Schlachten kämpfen nur ein paar Hundert Männer. Allesamt Krieger. Wir würden nicht die Bauern unseres Reiches in ein solches Massaker schicken.«
»Der Unsterbliche wird sich …« Volodi wurde von hinten gepackt und zu Boden gezerrt. Er wand sich, bäumte sich auf, doch etliche starke Hände hielten ihn. Dann zog ihm jemand einen Sack über den Kopf. Das Tuch roch unangenehm süß. Es war ein Duft, wie ihn der Drusnier noch nie gerochen hatte. Er dachte an die Worte des Zapote und hielt den Atem an.
»Dein Freund Kolja hat uns die Blonden unter unseren Gefangenen als Lohn versprochen. Hat er vergessen, dir das zu sagen, Volodi?«
Das musste eine Lüge sein, dachte Volodi und versuchte seine Peiniger abzuschütteln. Doch er wurde gnadenlos auf den Boden gedrückt. Es waren zu viele. Wie hatte er sich so übertölpeln lassen können? Auch von Kolja! War er von Anfang an ein Teil der versprochenen Beute gewesen? Kolja hatte ihn erst vor einer Stunde dazu ermuntert, sich bei den Zapote zu bedanken. War das Zufall?
»Du wirst meine Schwester Quetzalli wiedersehen, Volodi. Sie ist gut im Umgang mit Herzen.« Necahual lachte. »Aber das weißt du ja. Du wirst freiwillig zum Altar der Gefiederten Schlange gehen. Am Ende begreifen alle, welches Glück es ist, von der Göttlichen Schlange erwählt zu sein.«
Volodi vermochte nicht länger gegen das Erstickungsgefühl anzukämpfen. Er atmete ein. Ein pelziger Geschmack legte sich auf seine Zunge. Noch einmal bäumte er sich auf. Vergebens.
»Kauere dich zu den anderen und ruh dich ein wenig aus«, sagte Necahual und klang nun viel freundlicher. »Bald gehen wir durch das Nichts zurück zur Goldenen Stadt. Noch vor dem Morgengrauen wirst du dort sein, Volodi, und Quetzalli lächeln sehen. Dein Leben wird voller neuer Freuden sein.«
Müde hockte Volodi sich hin, als ihm auf die Schulter gedrückt wurde. Er fühlte sich hilflos. Gut, dass jemand mit freundlicher Stimme hier war, der ihm sagte, was zu tun war.
Das letzte Versprechen
»Was soll mit Bessos geschehen?«
Artax blickte müde auf. Er saß auf dem Klappstuhl hinter dem großen Tisch in seinem Zelt. Er wollte allein sein. Bis Sonnenuntergang war er bei den Verwundeten gewesen, hatte den Männern Mut zugesprochen und zuletzt seine eigene Wunde versorgen lassen. Sein linker Arm lag in einer Schlinge, um die Wunde in seiner Brust zu entlasten. Jeder Atemzug versetzte ihm einen leichten Stich.