Daron lief zu seiner Mutter und klammerte sich an sie.
Rahel sagte immer noch kein Wort. Sie blickte auf die in scharlachfarbenes Tuch gehüllte Gestalt. Sie hatte verstanden, auch ohne dass er etwas gesagt hatte.
»Er war ein Held«, sagte der Unsterbliche, und man hörte, wie er mit seinen Gefühlen rang. »Es war mir eine Ehre, ihm …«
»Schweig!«, fuhr Rahel den Herrscher an. »Du hast kein Recht, über ihn zu reden. Du kanntest ihn nicht!«
»Rahel, er ist der Unsterbliche. Er ist …«
»Er ist der Mann, in dessen Krieg mein Narek gestorben ist. Der Mann, der Bauern gerufen hat, um zu kämpfen. Was weiß er über Narek? Ich dulde nicht, dass er hierherkommt und glaubt, mit ein paar schönen Worten sei es getan. Scher dich zu deinen Huren in deinem Harem, du … du Ungeheuer!«
»Rahel«, empörte sich Ashot. »Bist du von Sinnen?«
»Ja, ich bin von Sinnen, denn mein Leben ist zerstört. Was soll ich ohne meinen Narek machen?«
Daron hatte angefangen zu weinen und vergrub sein Gesicht im groben Kleid seiner Mutter.
»Ich wollte …«, begann der Unsterbliche. Er hielt Nareks Schwert in Händen.
»Du willst ein Schwert in meinem Haus lassen? Sollen dich die Daimonen holen!«
Einige der Himmelshüter wollten Rahel packen und zum Schweigen bringen, doch der Unsterbliche wies sie aus dem Haus. »Bitte …«, begann er noch einmal und hob das Schwert, um das ein schöner, mit Silber beschlagener Gürtel gewickelt war.
»Es wird hier kein Schwert geben! Und keine falschen Geschichten von glorreichen Schlachten und Heldenmut.« Sie packte Daron, zerrte ihn zu dem Eingehüllten und zog das Tuch zur Seite, das über Nareks Gesicht geschlagen war. »Siehst du? Sie bringen deinen Papa. Das geschieht, wenn man mit Helden loszieht. Wenn …«
Der Kleine starrte fassungslos auf das Gesicht seines Vaters. Datames selbst hatte sich darum gekümmert, wie der Leichnam hergerichtet wurde. Er sah gut aus. Auf Nareks Wangen lag sogar ein leichter Hauch von Rot. Er wirkte sehr friedlich.
Daron beugte sich über seinen Vater. »Papa?« Er küsste ihn auf die Stirn. »Endlich bist du zurück. Sina wollte mir den Stein stehlen, den du mir geschenkt hast. Aber ich habe es nicht zugelassen. Ich habe …« Er stupste seinen Vater. »Papa?«
Rahel stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen.
Der Unsterbliche zog sich zurück. Auch Ashot wollte sich zur Tür hinausstehlen.
»Du bleibst«, fuhr Rahel ihn an. »Du hast mir versprochen, dass du auf ihn aufpassen würdest. Du …« Sie stürzte sich auf ihn. Trommelte mit den Fäusten auf seine Brust. »Du hast es versprochen!«
»Es tut mir leid.« Er konnte selbst nicht länger die Tränen zurückhalten. Er wusste, wie hohl seine Worte waren. Wie wenig Trost sie spendeten.
Rahels Hiebe wurden schwächer. Schließlich ließ sie ihren Kopf auf seine Brust sinken und weinte.
Ashot hielt sie im Arm, drückte sie fest an sich und zog auch Daron zu sich heran. Er hatte immer versucht, Narek aus jeder Gefahr herauszuhalten. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wie sein Freund, umgeben von ihren Kriegern, gestorben war. Niemand hatte gesehen, wie er die tödlichen Wunden empfangen hatte.
»Du solltest Daron zu dem Unsterblichen gehen lassen, Rahel«, sagte er nach langer Zeit leise.
»Damit er ihm mit seinen Geschichten den Kopf verdreht?«
»Das wird er nicht tun. Er ist ein guter Herrscher. Bald wird sich vieles ändern …«
»Bist du das, Ashot?«, fragte sie bitter. »Ashot der Spötter? Ist die Macht dieses Herrschers so groß, dass er selbst dir Honig ins Maul träufeln konnte?«
»Daron wird eines Tages Fragen stellen, Rahel. Er wird wissen wollen, wie sein Vater gestorben ist. Warum wir auf der Ebene von Kush waren …«
»Dann sagst du es ihm eben.«
Ashot schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht können. Ich werde nicht da sein.«
»Du willst zurück, zu diesem …« Ihr versagte die Stimme.
Ashot sah sie lange an. Dann nickte er. »Ja, Rahel, ich will weiterhin an Aarons Seite stehen. Ich glaube an ihn.«
Artax war zu der Zeder bei der verfallenen alten Mauer gegangen. Die Menschen im Dorf waren aus den Häusern gekommen. Sie hatten die Heimgekehrten empfangen und ihnen Gebäck und sauren Wein angeboten. Lachen klang in den kleinen Straßen. Die meisten Löwen von Belbek waren unverletzt zurückgekehrt. Sie prahlten mit ihren Heldentaten und damit, zur Leibwache des Unsterblichen gehört zu haben. Die Dorfbewohner lauschten andächtig und waren stolz, dass auch zwei der Ihrigen dazugehört hatten – Narek und Ashot –, während die heimgekehrten Krieger, die jetzt das große Wort schwangen, immerhin noch allesamt aus der näheren Umgebung stammten.
Viele Blicke folgten Artax. Doch sie wagten nicht ihn anzusprechen. Den Unsterblichen. Den Auserwählten des Löwenhäuptigen.
Artax kannte jedes Haus. Fast jeden auf den Straßen hätte er mit Namen ansprechen können. Aber sie erkannten ihn nicht mehr. Er gehörte nicht mehr hierher.
Er lehnte sich an die alte Mauer und blickte zum Sichelmond empor. Datames hatte ihm heute gesagt, dass er nun der mächtigste Mann Daias sei. Der Erste unter den sieben Unsterblichen. Artax dachte daran, wie oft er mit Narek und Ashot hier bei dieser Mauer gesessen hatte und wie sie gemeinsam von ihrer Zukunft geträumt hatten. Was würde er darum geben, noch einen solchen Abend mit den beiden zu haben. Aber diesen Wunsch würde er sich bei all seiner Macht nicht mehr erfüllen können.
Artax hörte leise Schritte. Daron kam die Straße hinab. Ein Stück entfernt stand Ashot. Dankbar nickte er seinem Freund zu, und Ashot zog sich wieder zurück.
Daron sah ihn mit großen, verweinten Augen an. Er war ein wenig pummelig und sah aus wie sein Vater, als er noch ein Junge gewesen war.
»Ist das wirklich das Schwert von meinem Papa?«
Artax nickte. »Ja. Es ist eine Klinge aus luwischem Eisen. Ein sehr besonderes Schwert.« Er zog die Waffe aus der Scheide. Mondlicht spiegelte sich auf der Schneide. Vorsichtig tastete Daron nach dem Griff, doch Artax zog die Waffe zurück. »Ich werde den Willen deiner Mutter respektieren. Sie hat recht. Es ist nicht gut, ein Schwert im Haus zu haben. Ich nehme es mit in meinen Palast. Dort wird es für dich verwahrt werden. Und eines Tages, wenn du zum Manne gereift bist, wirst du es bekommen. Wenn du es dann noch haben willst …« Er hielt inne. Hinter der Mauer hatte es geraschelt.
Artax blickte über das bröckelnde Mauerwerk hinweg. Auf der anderen Seite kauerten ein dünnes Mädchen in einem teuren, blauen Kleid und ein kleiner Junge. Beide starrten ihn erschrocken an. An das Mädchen erinnerte er sich noch. Aber der Junge … Er war schon zu lange fort, um die kleinen Kinder noch zu kennen.
»Du heißt Sina, nicht wahr?«
Ihre Augen wurden noch etwas weiter, als er sie mit ihrem Namen ansprach. Sie nickte.
»Und wie heißt du?«, fragte er den Jungen.
»Tura«, erklang es mit zitternder Stimme.
»Sina und Tura, ihr wollt also gerne wissen, was ich Daron zu sagen habe. Aber er hat euch nicht eingeladen. Dürfen sie bleiben, Daron?«
Nareks Sohn zögerte ein wenig. Dann nickte er. »Ja.«
»Dann kommt um die Mauer herum. Aber verhaltet euch still, denn diese Stunde gehört allein Daron. Wenn ihr stört, werde ich euch davonjagen.«
Die beiden kamen um die Mauer herum und ließen sich ein Stück von ihnen entfernt auf den Wurzeln der Zeder nieder. Es war gut, wenn Daron Zeugen für dieses Gespräch hatte. Ohne Vater würde er eine schwere Jugend haben. Er brauchte diese Nacht. Er würde noch lange davon zehren müssen.
Sie sahen einander lange Zeit schweigend an, bis Daron sich ein Herz fasste und die nächste Frage stellte. »War mein Papa wirklich dein Leibwächter?«
»Wir haben in der Schlacht auf der Ebene von Kush Rücken an Rücken gekämpft, und er hat für mich mein Feldzeichen mit dem goldenen Löwen getragen.« Artax’ Stimme war rau. Er konnte immer noch nicht fassen, dass Narek tot war.
»Aber deine anderen Krieger sind alle viel größer und stärker als mein Vater.«