»Ganz ohne Zweifel war es der schwere Sturz heute Mittag«, entschied Madyas.
»Aber es gibt Männer, die beschwören, dass sie es …«
»Es finden sich immer Männer, die einem Herrscher nach dem Mund reden, Subai. Die Weisheit eines großen Königs besteht darin, jene um sich zu versammeln, die den Mut haben, wahr zu sprechen. Wie stehst du dazu, Arimaspu?«
»Ich denke«, entgegnete die heisere Stimme, »einem Prinzen und einer Prinzessin sind heute ihre Wege und Grenzen aufgezeigt worden. Und wir schätzen uns glücklich, eine Wahrheit gefunden zu haben, die zum Nutzen unseres Volkes ist und der Ehrenrettung der Prinzessin Shaya dienen mag. Wer von heute an wagt zu behaupten, sie habe sich jemals unkeusch verhalten, wird mit seinen Worten den Zorn des Rates auf sein Haupt ziehen.«
Shaya hörte ihren Bruder nach Luft schnappen. Auch sein Wort fand kein Gehör. Das zu erleben tat gut.
Eine Decke wurde über ihre Beine gebreitet, aber die Lederriemen wurden nicht gelöst.
»Miau, du weißt, was mit ihr zu tun ist. Die Diener werden deine Nadeln bringen und was du sonst noch brauchst.«
»Lasst es mich nicht heute tun, großherziger Madyas. Wir sollten ihr keinen weiteren Schmerz mehr zufügen. Ich bitte Euch darum.«
»Einen Tag noch, Heiler. Einen einzigen schenke ich ihr. Dann endet ihr Leben als Kriegerin.«
Der Henker
»Wirst du gehorchen?«
Voller Verachtung sah Gonvalon Lyvianne an. Was erwartete sie, dass er antworten würde? Er war ein Drachenelf. Er hatte noch nie einen Befehl verweigert.
»Deine Antwort, Gonvalon.« Sie hielt seinen Blick gefangen, unerbittlich. So wie er war sie eine Meisterin der Weißen Halle. Sie trug ein langes, weißes Gewand, ganz ohne die Stickereien, die ihrem Rang zugestanden hätten. Ihr schwarzes Haar war gelöst und floss ihr über Schultern und Rücken. Einzelne Schneeflocken hatten sich darin verfangen. Nach seiner Begegnung mit Matha Naht hatte sie ihn lange gepflegt. Hatte ihm geholfen, wieder er selbst zu werden. Sonst aber war sie kalt wie diese verschneite Lichtung. Unbarmherzig wie die Bilder, die ihm die Silberschale gezeigt hatte. Er mochte es immer noch nicht glauben, dass Nandalee eine Mörderin sein sollte. Nicht die Nandalee, die er kannte. Was mochte in Zukunft mit ihr geschehen? Was würde sie so verbittern lassen, dass sie sich letztlich gegen die Himmelsschlangen wandte und ihren Herrn, Nachtatem, ermordete?
»Wirst du ihr Henker sein, oder wirst du den Goldenen erneut verraten?«
Seine Hand fuhr ans Schwert. Lyvianne beeindruckte die Geste nicht im Mindesten. Sie kannte ihn zu gut.
»Ich kann nicht in den Jadegarten gelangen«, entgegnete er schließlich. »Ich bin dort nicht erwünscht.«
»Dorthin musst du auch nicht gehen. Der Schwebende Meister wurde ermordet. In zwei Tagen werden wir die Tiefe Stadt angreifen. Alle Drachenelfen und Novizen werden am Angriff teilnehmen. Auch jene Elfen aus dem Jadegarten. Die Tiefe Stadt ist groß. Wir werden unsere Kräfte aufteilen. Es sollte dir möglich sein, Nandalee allein zu treffen und deinen Befehl auszuführen. Du wirst die Geschichte Albenmarks zum Besseren wenden, wenn du sie tötest, bevor sie zu dem wird, was du in der Silberschale gesehen hast. Sie vertraut dir. Sie wird nicht argwöhnisch werden, wenn du dich zu ihr gesellst. Und niemand wird Verdacht schöpfen, wenn sie in der Schlacht fällt. Dies ist die beste Gelegenheit, sich der Verräterin zu entledigen.«
»Ich werde sie suchen …« Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren. Das war nicht er, der dort sprach. Sein Fluch hatte ihn wieder eingeholt. Jede seiner Schülerinnen aus der Weißen Halle war gestorben. Doch noch nie hatten sie ihn geschickt, eine von ihnen zu töten. Er würde in der Tiefen Stadt den Tod suchen. Nachdem er seinen Befehl ausgeführt hatte. Nur so konnte er den Fluch brechen.
»Ich werde in deiner Nähe sein, Gonvalon. Ich hege weniger Vertrauen zu dir als der Goldene. Nun geh zurück auf den Waldweg. Ein Drachenpfad ist geöffnet und wird dich an den Ort bringen, an dem sich jene sammeln, die das Verderben der Tiefen Stadt sein werden.«
Seine Schritte waren so schwer, als wolle der Waldboden ihn zurückhalten. Es war falsch, sich gegen die Himmelsschlangen aufzulehnen. Sie hatten ihm die Familie gegeben, die er nie besessen hatte. Er hatte ihnen Treue geschworen. Stets war er stolz darauf gewesen, dass der Goldene ihn zu seinem Krieger erwählt hatte.
Etwas zerrte an ihm, zog ihn aus der Wirklichkeit. Einen Herzschlag lang fühlte es sich an, als würde er stürzen. Schwindel ergriff ihn, als sei er wieder und wieder im Kreis gedreht worden. Warmes Blut rann über seine Lippen und troff auf sein weißes Gewand. Blendendes Licht stach in seine Augen.
Gonvalon sank in die Knie. Es war vorüber. Seine Nase blutete. Er presste den Handrücken unter seine Nasenlöcher und sah sich staunend um. Der Drachenpfad hatte ihn in ein enges, karges Tal getragen. Kaum ein Baum oder Busch klammerte sich in das bleiche Karstland. Die Felshänge waren von blendendem Weiß, vielfach zerklüftet, von Wind und Wasser geformt. Gonvalon wusste nicht, wo er war. Die Himmelsschlangen lagerten auf dem braunen verdorrten Gras der Talsohle. Alle acht waren dort versammelt. Sogar der Dunkle, der sich sonst kaum einmal zeigte, hatte sich dem Heerbann der Drachen angeschlossen.
Es war lange her, seit Gonvalon zuletzt alle acht Himmelsschlangen an einem Ort versammelt gesehen hatte. Der Anblick ließ ihm das Herz aufgehen. Die Anmut der riesigen Geschöpfe, die ihren gewaltigen Leibern Hohn sprach, war fleischgewordene Vollkommenheit. Wenn sie ihre Flügel spreizten oder falteten, brach sich tausendfach das Sonnenlicht in ihren Schuppen, und gleißende Lichttupfer sprühten über die knochenbleichen Felswände und das seltsame Heer, das sich rings um sie versammelt hatte.
Weit über hundert mindere Drachen lagerten im Tal, krallten sich in die steilen Felswände oder kreisten mit ausgestreckten Schwingen im warmen Aufwind. Nur ein Stück von Gonvalon entfernt sonnten sich drei Tatzelwürmer aus den dunklen Bergwäldern der Ioliden auf den bleichen Felsen. Große, fassdicke, schlangenhafte Geschöpfe, die halb dahinglitten, halb auf Stummelbeinen liefen, die in mächtigen Krallenfüßen endeten. Die Tatzelwürmer sollten offenbar in die Tunnel der Zwergenstadt kriechen, um Tod und Verderben unter das kleine Volk zu tragen.
Rote Sonnendrachen kreisten über dem gegenüberliegenden Ende des Tals, die langen, schlangenartigen Hälse weit vorgestreckt wie fliegende Wildgänse. Silberschwingen klammerten sich in dichten Gruppen an eine Steilwand.
Sengende Hitze traf Gonvalon im Rücken, und er beeilte sich, vom Ausgang des Drachenpfades fortzukommen. Eine Kreatur, umspielt von gelbroten Flammenzungen, als seien sie ihr Gefieder, schob sich durch das magische Portal. Lange, flammende Peitschenschnüre wucherten aus Nüstern und Stirn des Geschöpfes, das sich talwärts wand und dabei einen trockenen Busch in Flammen aufgehen ließ. Gonvalon hatte einen solchen Drachen noch nie gesehen, kannte aber die Geschichten, die sich um diese Ungeheuer rankten. Es war eine Feuerschlange, die ihr Nest im Herzen eines Vulkans verlassen hatte.
Ein Schwarm braungeschuppter Drachen aus den Wäldern Galveluns erschien über einem Bergkamm im Osten und flog in weitem Bogen ins Tal ein, während immer mehr Drachen durch das magische Tor kamen.
Nie zuvor hatte Albenmark ein solches Heer sich versammeln sehen. So verschieden all diese Drachen auch waren, eines hatten sie alle gemein, sie waren gefürchtet für ihren Flammenodem. Es fehlten die Klippdrachen von Tanthalia oder die Rosendrachen aus Langollion und all die anderen, die kein Feuer spien. So beeindruckt er war, Gonvalon fragte sich, wie der Goldene und seine Nestbrüder mit all den stolzen Himmelsgeschöpfen eine Stadt angreifen wollten, die tief unter einem Berg verborgen lag und deren Tunnel viel zu eng für die meisten dieser Drachen waren.
Der weiße Wolf
Shaya lag in der Einsamkeit ihrer Jurte. Sie hielt beide Hände fest zwischen die Schenkel gepresst, als würde es etwas helfen. Auch jetzt noch fühlte sie sich nackt. Die Wände der Jurte, das Wolfsfell, das sie ihr als Decke gelassen hatten, das dicke Filzkleid, das die Dienerinnen ihr angezogen hatten, all dies half nichts. Jeder konnte sie sehen. Sie war bloßgestellt für alle Zeit. Sie wusste nicht, was dieser Heiler vom Seidenfluss noch mit ihr tun sollte. Immer wieder musste sie daran denken, dass Nadeln geholt werden sollten. Es gab viele Heilzauber, für die Nadeln verwandt wurden. Aber sie war nicht verletzt, musste nicht geheilt werden. Wenigstens äußerlich nicht.