Shaya hatte einmal eine Geschichte gehört, dass man Verwirrten am Auge vorbei haarfeine Nadeln tief in den Kopf hineinstieß, um ihre aberwitzigen Gedanken und den verblendenden Wahn aufzuspießen und auszulöschen. War es das, was ihr Vater ihr bestimmt hatte? Sollte auf diese Weise ihr Stolz gebrochen werden? War die Demütigung des heutigen Tages erst der Anfang? Ihr Vater kannte sie gut. Gewiss wusste er um ihre Rachegelüste. Wollte er ihr die Aufsässigkeit ein für alle Mal austreiben lassen? Sie zu einem tumben Weib machen, das nur hündischen Gehorsam kannte? Das Kinder gebar, sie säugte und sich den Rücken krumm arbeitete, während der Mann, dem man sie überlassen hatte, sich eine Jüngere auf sein Lager holte? So viele Frauen hatte sie als Kind diesen Weg nehmen sehen, und sie hatte sich geschworen, dass sie niemals so enden würde. Sie war Kriegerin geworden, hatte sich den Respekt der Männer erkämpft und einigen den Schädel eingeschlagen, für die Weiber nicht mehr als ein warmes Stück Fleisch waren.
Sie sah sich in ihrer Jurte um. Eine winzige, gelbe Flamme tanzte auf dem zurückgeschnittenen Docht der einzigen Öllampe, die man ihr gelassen hatte. Sturmwind wehte über die Steppe und heulte, als würde ein Rudel Wölfe über den Himmel ziehen. Die Lampe war aus dickem, speckigem Stein geschnitten. Sie würde sie nur auf einem anderen Stein zerbrechen können. Den aber gab es nicht. Die Schale mit den Essensresten war aus Holz, ebenso wie der Becher, der danebenstand. Ihr Vater kannte sie zu gut! Es gab hier nichts, was sie zerbrechen konnte, um sich mit den Scherben die Adern aufzuschneiden. Das Seidenkleid mit den dünnen Schnüren hatten die Dienerinnen mitgenommen. Es gab hier nichts, woraus sie eine Schlinge hätte drehen können. Natürlich auch kein Messer.
Versonnen betrachtete Shaya die Lampe. Schließlich schob sie ihre Decke zur Seite und griff nach dem Licht. Sie schüttelte die Lampe. Es war nur wenig Öl darin. Wenn sie sich damit übergoss und dann das Öl entzündete, würde sie sich zwar schlimme Brandwunden zuziehen, aber sie würde es überleben. Auch würden die Wachen vor dem Zelt schnell bemerken, was geschah.
Mit einem leisen Fluch setzte sie die Lampe wieder ab. Sie wollte sich töten. Sich zu verstümmeln war keine Lösung.
Sie dachte an einen Unglücksfall, der sich vor etwa einem Jahr im Palast des Statthalters auf Nangog ereignet hatte. Zwei Krieger ihrer Gardetruppe hatten miteinander gewettet, wer von ihnen als Erster den Boden betreten würde. Beide waren an Tentakeln eines Wolkensammlers herabgeklettert, die nach einem Ankerturm griffen. Einer von ihnen war das letzte Stück gesprungen. Es waren nur vier oder fünf Schritt, aber er war hart auf den Treppenstufen aufgekommen. Dabei hatte er sich die Zunge durchgebissen. Niemand hatte die Blutung stillen können. Shaya war dabei gewesen, als er Blut spuckend sein Leben aushauchte.
Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Schneidezähne. Würde sie es schaffen? Könnte sie sich die eigene Zunge durchbeißen? Ein Schauer überlief sie. Plötzlich schien es kälter zu werden. Sie schob ihre Zunge zwischen die Schneidezähne. Die Zunge herauszureißen war keine seltene Strafe am Hof ihres Vaters. Die meisten überlebten das. Aber sie würde keine Hilfe bekommen. Wenn sie die Wunde einfach bluten ließ …
Sie musste an Aaron denken. An seine leidenschaftlichen Küsse. Sie würde ihn niemals wiedersehen! Auch wenn sie am Leben blieb. Wo er jetzt wohl war? Würde er Muwatta besiegen? Ob er sie auch vermisste? Würde er ihr helfen, wenn er um ihre Lage wüsste? Trotz des Verbots des Devanthar?
Es schien noch kälter geworden zu sein. Viel zu kalt für diese Jahreszeit! Weiter im Osten lag noch Schnee. Der Wind trug den Hauch des Winters über den Wandernden Hof. Die kleine Flamme der Öllampe flackerte. Fürchtete sie sich mehr vor dem Tod, als sie sich eingestehen wollte? Fror sie deshalb?
Shaya setzte sich genau in die Mitte der Jurte, das Gesicht zum Eingang gerichtet. Sie würde es tun. Und sie würde keinen Laut von sich geben.
Der Ostwind rüttelte an der Jurte. Die Holzverstrebungen der Wände knarrten leise. Shaya streckte ihre Zunge so weit heraus, wie sie konnte, und kämpfte gegen den Würgereiz an, der sie dabei überkam. Ihr Atem stand ihr in dichten Wolken vor dem Mund. Draußen war es plötzlich totenstill. Der Wind regte sich nicht mehr. Kein Laut drang durch den dicken Filz unter der ledernen Außenhaut der Jurte. Das war nicht geheuer! Es wurde nie so still am Wandernden Hof. Wo Tausende Tiere und Menschen dichtgedrängt beisammenlebten, gab es keine Stille.
Etwas Weißes kroch über die Holzgitter entlang der Wand, und der Holzboden unter ihr fühlte sich an, als säße sie auf blankem Eis. Sie stand auf. Etwas war hier nicht geheuer. Vorsichtig berührte sie den Pfosten in der Mitte der Jurte. Raureif blühte auf dem Holz. Welche unheimliche Macht hatten ihren Zorn und ihre Verbitterung heraufbeschworen?
»Wachen?« Sie erhielt keine Antwort. Etwas schlich um die Jurte. Sie hatte zwar kein Geräusch gehört, aber sie spürte, dass dort etwas war.
Entschlossen trat Shaya zum Eingang. Sie würde sich nicht überrumpeln lassen. Ganz gleich, was dort draußen lauerte, es war besser, wenn sie die Initiative ergriff, statt abzuwarten, was geschehen würde.
Ein bleicher Mond stand hoch am sternenklaren Himmel. Der Boden vor der Jurte war hart gefroren. Ihre drei Wachen standen erstarrt. Alles schien erstarrt zu sein. Die Rossschweifstandarte vor dem Zelteingang war zur Seite geweht, als greife eine wilde Bö nach ihr. Und inmitten dieser Bewegung verharrte sie, als sei die Luft ringsherum zu klarem Eis geworden.
Blass leuchtender Nebel glitt über den Boden. Aus den Augenwinkeln sah Shaya eine Bewegung. Sie fuhr herum, sah, wie sich aus dem Nebel Gestalten formten. Die Krieger, die mit ihr im Kampf bei der Kristallhöhle auf Nangog gefallen waren. Ihre Kinderfrau, die ihr Vater hatte vierteilen lassen, weil sie es gewagt hatte, sie das Bogenschießen zu lehren. Die Nebel gebaren all die Toten ihrer Vergangenheit, und inmitten der geisterhaften Gestalten kam ein großer, weißer Wolf auf sie zu. Seine Augen waren von kaltem, eindringlichem Blau. Sein Blick hielt sie gefangen.
»Steig auf meinen Rücken, Shaya. Wir werden eine Reise machen.«
Beklommen ging sie auf ihn zu. Der Wolf war der Devanthar ihres Volkes. Sie ahnte, dass er wusste, was sie hatte tun wollen. Zwei Schritt vor ihm hielt sie inne. Sie konnte nicht länger in seine Augen sehen. Demütig warf sie sich vor ihm zu Boden und drückte ihre Stirn fest gegen den von Raureif überzogenen Boden. »Bitte verzeih mir, mein Gebieter, wenn ich dich erzürnt habe. Nimm den Fluch von diesem Ort, lass die Geister ruhen und nimm mich, um deinen Zorn zu besänftigen.«
»Sieh mich an, Shaya, Tochter des Madyas.«
Sie hob den Kopf, scheute aber davor zurück, in die Augen des Wolfs zu blicken. Sie hatte das Gefühl, der Devanthar könne bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Nichts blieb vor diesen Augen verborgen. Manchmal erschien er ihrem Volk als ein Weißer Hengst, zu anderen Zeiten als Wolf oder in Gestalt eines Kriegers. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind und auch während ihrer Jugend immer das Gefühl gehabt hatte, er sei ihr nahe. Erst als sie nach Nangog gegangen war, war das Gefühl der Verbundenheit mit ihm verblasst.
»Dein Widerstand gegen die Pläne deines Vaters bekümmert mich, Shaya.«
»Ich werde mich fügen«, sagte sie leise.
»Das ist es nicht, was ich will. Ich will, dass du es aus Überzeugung tust. Mit Freude. Steige auf meinen Rücken, Tochter des Madyas. Ich möchte dir etwas zeigen.«