Sie blickte zu den Wachen vor ihrer Jurte. Die drei standen noch immer wie versteinert. »Was ist hier geschehen? Sind sie …«
»Niemand ist tot. Du bewegst dich außerhalb ihrer Wahrnehmung. Sie haben dich nicht deine Jurte verlassen sehen. Niemand wird bemerken, dass du mit mir fort warst. Ein Tag für uns ist nur ein Herzschlag für sie.«
Sie keuchte. »Das … Tust du das öfter?«
Der Weiße Wolf legte den Kopf schief und warf ihr einen schelmischen Blick zu. »Gelegentlich. Doch nun komm! Du bist nicht meine einzige Sorge in dieser Nacht.«
Zögerlich trat sie an seine Seite. Er war fast so groß wie ein Pony. Ganz langsam streckte sie die Hand aus und strich über sein Fell. Es war weich wie Seide. Sie griff in seinen Nacken, saß auf, und im nächsten Augenblick schien es, als wollten ihr die Sterne entgegenstürzen, so schnell stiegen sie in den Nachthimmel hinauf.
Es war, als laufe der Wolf auf dem Sturmwind. Sie eilten gen Osten, dem Sonnenaufgang entgegen und den Bergen. Doch das Licht erschien nicht am Horizont. Die Sterne standen still am Himmel.
Der Weiße Wolf wurde langsamer. Vor ihnen ragte ein gewaltiger Berg in den Himmel. Sie landeten auf einem schmalen, schneebedeckten Grat. Wind blies den Schnee über den Bergkamm. Auch diese Bewegung war erstarrt. Sie schritten über Neuschnee, ohne einzusinken. Tief unten im Schnee erkannte Shaya Pfähle, an denen bunte Fahnen wehten. Zwei Pferde standen dort. Und halb verborgen von den flatternd erstarrten Fahnen kniete ein Mann.
»Warum hast du mich hierhergebracht?«
Der Wolf antwortete nicht. Unbeirrt stieg er weiter in das Tal hinab.
Endlich erreichten sie den Knienden. Es war ein Mann, in Lumpen gekleidet. Vom Sattel des kleineren Pferdes hing ein mit angelaufenem Silber beschlagener Köcher, wie ihn die Steppenreiter für ihre kurzen Jagdbögen und Pfeile nutzten.
Jetzt erst bemerkte Shaya, dass keine Fahnen an den Pfählen hingen. Dort waren Kleider und Schals angebunden. Einige ausgefranst und von Wind und Wetter gebleicht. Andere sahen neuer aus. Es waren Kinderkleider. Der kniende Mann hielt einen roten Schal in Händen. Auf seiner Wange schimmerte eine Träne. Sein Antlitz war eine Maske der Trauer.
»Er ist Jäger. Vor drei Wintern war er hier auf der Pirsch. Er folgte einem Schneeleoparden hier herauf. Er hatte drei Töchter. Die älteste war vierzehn. Schon im heiratsfähigen Alter. Sein Weib war sechs Jahre zuvor im Kindbett bei der Geburt seiner Jüngsten gestorben. Er hat nie wieder eine andere Frau genommen. Er ist ein guter Mann gewesen. Er hat nicht gehurt oder gesoffen. Er hat alles für seine drei Mädchen gegeben. Er wollte sie immer an seiner Seite haben. Sie haben ihn auf der Jagd begleitet. Er hat diesen Platz ausgesucht, um ihre Jurte aufzuschlagen. Die Mädchen wären lieber unten im Tal geblieben. Die Älteste wollte dort am Fluss waschen. Wie immer haben sie seinem freundlichen Drängen nachgegeben. Geh hin, Shaya. Berühr ihn. Er ist kein Geist. Er ist ein Mann aus Fleisch und Blut.«
»Ich …« Sie zögerte.
»Er wird es nicht merken. Geh.«
Sie strich über sein struppiges, dichtes Haar. Fuhr mit den Fingerspitzen über die Falten, die der Kummer in sein Gesicht gegraben hatte. Eine Träne blieb an ihrem Zeigefinger haften. Sie war warm. Der Schal in den Händen des Jägers war aus feinem Stoff. Seine eigenen Kleider hingegen waren vielfach ausgebessert und zerschlissen. Die Stiefel wurden von Flicken und Lederriemen zusammengehalten.
»Auf der Spur des Leoparden ließ die Jagd ihn die Welt um sich vergessen. Er konnte nur an das kostbare Fell denken und daran, welche Geschenke er seinen Töchtern machen wollte. Seine Älteste hatte sich in eine Kette aus roten Korallen verliebt, die sie bei einem fliegenden Händler gesehen hatte. Er hat sie damit geneckt, so nutzlosem Tand nachzujagen, und heimlich beschlossen, dass sie solch eine Kette zum Neujahrsfest bekommen sollte. Er hat an rote Korallen gedacht, als er höher und höher in die Berge stieg, die Augen fest auf die Fährte des Leoparden geheftet. Dass es ungewöhnlich warm für einen Frühlingstag wurde, bemerkte er nicht. Erst als er die Lawine hörte. Der ganze Hang, auf dem wir stehen, kam ins Rutschen. Die Stelle unten am Fluss, dort, wo seine Älteste hatte lagern wollen, hat der Schnee nicht erreicht.
Mehr als vierzig Tage hat er nach ihnen gesucht. Aber er konnte nichts finden. Keinen Fetzen von der Jurte. Kein Teil ihrer Ausrüstung. Hunderte Löcher hat er in den Schnee gegraben. Manchmal glaubt er die Stimmen seiner Töchter unter sich flüstern zu hören. Wann immer er kann, kommt er hierher. Er glaubt, seine Kinder leben noch. Irgendwo hier unter uns in Schnee und Eis. Und er glaubt, sie frieren entsetzlich, da sie an dem warmen Tag ihre dicken Jacken nicht getragen haben. Wenn er Felle tauscht, dann nimmt er nur so viel Salz und Hirse, wie er unbedingt zum Leben braucht. Alles andere gibt er für Kinderkleider aus, die er hierherbringt.«
Shaya betrachtete all die Kleider an den Pfählen. Die fellgefütterten Fäustlinge. Die Filzstiefel, die halb im Schnee versunken waren. Lange Kleider. Dicke Jacken. Oft bunt und bestickt. Etwas Rotes, das fast aussah wie geronnenes Blut, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Es hing an dem größten der drei Pfähle. Sie trat näher. Wischte den Schnee ab. Es war eine Kette aus Korallen. Sie schluckte. Kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an und sah zu dem Mann, der im Schnee kniete. Seine Nasenspitze war blaurot gefroren. Die Nähte seiner Fäustlinge zum Teil aufgeplatzt. Er hatte ein hageres, stoppeliges Gesicht, in dem kein Platz für ein Lächeln mehr geblieben war.
»Wie kann man ihm helfen?«
»Niemand kann ihm helfen, Shaya. Nicht einmal ich kann ihm zurückgeben, was er verloren hat. Er hat schöne Erinnerungen. Manchmal ist das alles, was einem bleibt. Du hast einmal Fäustlinge besessen, die mit dem Fell von Wolfswelpen gefüttert waren. Er hatte die Welpen erlegt.«
Shaya erinnerte sich. Rote Blüten waren auf den Saum der Fäustlinge gestickt gewesen. Drei Winter lang hatte sie sie getragen, bis ihre Hände hoffnungslos zu groß für sie geworden waren.
»Wir müssen weiter, Prinzessin. Steig wieder auf meinen Rücken.«
Sie warf einen letzten Blick auf den Jäger. »Ich habe ihm eine der Tränen für seine Töchter gestohlen«, sagte sie halblaut.
»Er hat noch viele Tränen«, entgegnete der Devanthar. »Er wird es nicht bemerken, wenn eine fehlt.«
Shaya saß auf, doch sie traute den Worten des Devanthar nicht. Er blieb für sie unberechenbar. Sie dachte wieder an das Gefühl ihrer Kindheit. Die Ahnung, dass er um sie gewesen war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. War es vielleicht keine Einbildung gewesen? Wie oft wob er diesen Zauber? Wie oft dehnte er die Zeit so sehr, dass er für das menschliche Auge unsichtbar wurde?
Wieder stiegen sie weit in den Himmel hinauf. Diesmal wandte sich der Weiße Wolf nach Süden. Sie flogen über einsame Bergweiden dunklen Wolken entgegen. Bald waren sie umfangen von Schneeflocken, die still in der Luft standen. Wie tausend Nadeln stachen sie nach ihrem Gesicht, als sie durch den in der Zeit gefrorenen Sturm ritten.
Endlose Wälder erstreckten sich unter ihnen. Bei einer weiten Lichtung, auf der ein kleines Feuer brannte, stieg der Weiße Wolf vom Himmel hinab. Drei alte Frauen kauerten um ein Lagerfeuer. Darauf stand ein kleiner Kupferkessel, in dem eine dünne Suppe köchelte. Die Gesichter waren faltig und ausgezehrt, sodass ihre Augen riesig wirkten.
»Was ist mit ihnen?«
»Ihre Sippe hat sie hier zurückgelassen. Ein Packtier mit Wintervorräten ist vor einem Mond von einem schmalen Saumpfad abgekommen, in einen Gebirgsbach gestürzt und von der reißenden Flut davongetrieben worden. Die Vorräte reichen nun nicht für alle. Die drei Ältesten bleiben hier, damit die übrige Sippe aus den Bergen herabsteigen kann. Sie hatten schon im Herbst Pech. Der Winter kam zu früh und hatte die Pässe blockiert. So konnten sie aus den Hochwäldern nicht mehr in ihr eigentliches Winterquartier zurückkehren. Sie sind auf solche Unglücksfälle vorbereitet. Sie haben zwei große Jurten bei sich, und eigentlich hatten sie auch genug Vorräte …« Er machte eine kurze Pause. »Das wirklich Ironische ist, dass sie genug Honig hätten, um nicht verhungern zu müssen.«