Shaya hörte ihm zu und blickte in die drei vom Leben gezeichneten Gesichter. Eine der Alten hatte mit einer milchigen Schicht überzogene Augen. Der, die im Topf rührte, fehlten zwei Finger. Die drei wirkten nicht verbittert oder ängstlich. Sie schienen den Tod nicht zu fürchten.
»Der Honig aus den Bergwäldern ist besonders kostbar. Für einen kleinen Krug voll erhalten sie einen ganzen Sack voll Reis. Würden sie den Honig essen, könnten sie keine Vorräte für den nächsten Winter eintauschen. Der Honig der Bergwälder gilt als besonders heilkräftig. Die Heiler am Seidenfluss benutzen ihn gern. Erinnerst du dich, wie du deinen Hirsebrei oft mit Honig versüßt hast und wie du dir von deinem Vater einen Krug voll Honig als Belohnung für deinen Tanz auf der Trommel gewünscht hast?«
»Welche von den dreien hat den Honig gesammelt?«, fragte sie mit tonloser Stimme.
Die blauen Augen des Wolfes zogen ihren Blick an, hielten sie gefangen. »Es war die Blinde. Weißt du, was ihre Abschiedsworte an ihren Sohn waren?«
»Dass sie ihn liebt?«
Die Pupillen des Wolfs verengten sich zu winzigen, schwarzen Punkten. »Sie hat ihm erklärt, wo sie den Kupferkessel verstecken werden, damit ihre Sippe ihn wiederfindet, wenn sie im Spätsommer in dieses Tal zurückkehrt. Der Kessel ist kostbar und kann ihrer Sippe noch viele Jahre lang nützlich sein. Beginnst du zu verstehen, warum ich dir all dies zeige?«
Beschämt senkte Shaya das Haupt. Natürlich verstand sie es. Sie sollte sich fügen. Sollte akzeptieren, dass ihr Leben nicht wirklich ihr gehörte. Sie wusste das seit ihrer Kindheit. Und doch vermochte sie sich nicht einfach zu ergeben.
»Alles im Reich deines Vaters ist mit dem Wandernden Hof verbunden. Von überall fließen Abgaben in jeder nur denkbaren Form. Doch dein Vater gibt zurück. Er ist das Herz des Reiches. Wie ein Herz treibt er sein Blut bis in die entferntesten Glieder und lässt das Reich leben. Ihr – du, Shaya, und deine Geschwister, seine Kinder –, ihr seid dieses Blut. In den Städten am Seidenfluss verspotten sie das Volk der Ischkuzaia oft als Barbaren. Aber die Wahrheit ist, dass Weisheit und Kultur am Seidenfluss nie gekannte Blüten treiben, seit dein Vater die Städte unterwarf und die blutigen Fehden der Stadtstaaten ein Ende haben.«
»Was also soll ich tun?«
Der Weiße Wolf knurrte leise. »Das weißt du tief in deinem Herzen. Oder muss ich dir noch mehr zeigen? Willst du sehen, wie am Seidenfluss achtjährige Knaben kastriert werden und man ihnen die Zunge entfernt, damit sie zu vollkommenen Dienern der Damen des Wandernden Hofes werden? Einer von vieren überlebt dies und wird erwachsen. Und natürlich sucht man für diese Behandlung nur die schönsten und vielversprechendsten Knaben aus. Ich werde dich zu nichts zwingen, Shaya. Starke Entscheidungen, die jeden Sturm des Zweifels überstehen, müssen aus Überzeugung getroffen werden.«
Sie blickte zu den drei alten Frauen, die um das kleine Feuer im Schnee saßen und auf ihren Tod warteten, weil ein Maultier einen Fehltritt getan hatte. »Ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte sie leise, und der Kloß, der ihr im Hals saß, ließ ihre Stimme heiser klingen. »Bitte bring mich zurück.«
Spinnenblick
Nandalee tauchte ihr Gesicht in die Schüssel mit kaltem Wasser. Sie hielt den Kopf untergetaucht. Dieser Gestank. Er war einfach unbeschreiblich!
Sie hatte mit der Dame Amalaswintha Galars Höhle besucht. Diesmal war der Schmied freundlicher gewesen. Er hatte sie sogar wiedererkannt. Er bekannte sich ganz freimütig dazu, den Weißen Drachen getötet zu haben. Ebenso wie sein Kamerad Nyr, den sie ebenfalls besucht hatten. Wahrscheinlich war Galar so redselig gewesen, weil er ganz genau wusste, wie sehr sein Besuch an dem bestialischen Gestank litt. Er hatte Unmengen von diesem widerlichen Käse in seiner Höhle gelagert. Nandalee war schleierhaft, wie der Kerl es in diesem stinkenden Dreckloch aushielt. Nach einer Weile hatte Amalaswintha darauf gedrängt zu gehen, und Nandalee war nur zu dankbar darauf eingegangen. Amalaswintha hatte sich die ganze Zeit über ein parfümiertes Tuch vor die Nase gehalten, doch selbst das schien nur begrenzt geholfen zu haben.
Nandalee wusste jetzt, wo Galar und Nyr zu finden waren. Sie hatte sich die Wege zu ihren Höhlen gut eingeprägt. Sollte Nachtatem sie als Meuchlerin schicken, war sie bereit. Nur Hornbori fehlte ihr noch. Gegen ihn hegte Amalaswintha eine so ausgeprägte Abneigung, dass Nandalee vermutete, dass der Zwerg vielleicht einmal ihr Liebhaber gewesen war.
Nandalees Lungen begannen zu brennen. Mit einem langen, wohligen Seufzer hob sie das Gesicht aus der Wasserschüssel.
»Entschuldige, wenn ich dich dabei störe, dich zu ertränken, aber die Herrin Amalaswintha wünscht dich zu sehen.«
Nandalee fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand Geberic, einer der Leibwächter der Zwergin. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Es war leichtfertig, inmitten von Feinden so unaufmerksam zu sein, auch wenn die Zwerge nicht ahnten, wer sich bei ihnen eingeschlichen hatte.
»Du schleichst wie eine Katze«, murmelte sie ärgerlich und trocknete ihren langen Bart mit einem Tuch. Nandalee hatte es nicht gewagt, die Zöpfe mit den Eisenringen zu lösen, aus Furcht, sie würde die eigentümliche Barttracht nicht mehr hinbekommen.
»Es ist keine Kunst, nicht gehört zu werden, wenn jemand seinen Kopf ins Wasser hält. Hast du zu viel getrunken, Arbinumja?« Er lächelte bei den letzten Worten überheblich.
Nandalee wickelte sich das feuchte Tuch um die Lenden. So wie Geberic roch, war es nicht verwunderlich, dass er nicht auf die Idee gekommen war, dass sie sich wusch. Dabei legte der Leibwächter durchaus Wert auf sein Äußeres. Er trug eine ärmellose Lederweste, die die Tätowierungen auf seinen Armen zur Geltung brachte. Die Bilder zeigten Waffen, einen Zwerg, der mit einem Bären kämpfte, und einen Krieger, der triumphierend einen abgeschlagenen Kopf hochhielt. Das Ganze war mit Ranken aus Eiskristallen umgeben. Ein wenig kitschig und unbeholfen ausgeführt waren die Bilder. Außerdem hatte Geberic seinen linken Nasenflügel mit einem goldenen Ring durchbohrt. Das hatte Nandalee noch bei keinem anderen Zwerg gesehen. Allein die Vorstellung, ihren Körper mit Löchern zu versehen, um darin Schmuck zu befestigen, fand sie merkwürdig.
Geberic, dem aufgefallen war, wie sie ihn anstarrte, ließ seine Armmuskeln spielen, woraufhin sich der Bär bewegte und es aussah, als wolle er den Zwerg mit einem Prankenhieb angreifen.
»Hübsch«, bemerkte sie knapp.
Geberics Miene verfinsterte sich. Hübsch war ganz offensichtlich nicht, was er hatte hören wollen. »Die Dame Amalaswintha schätzt es nicht zu warten. Beweg deinen mageren Hintern.«
Nandalee raffte ihre Kleider zusammen und stieg hastig in die kratzende Wollhose. Sie fürchtete den Zorn Amalaswinthas. Die Zwergin hatte sie den ganzen Tag über so eigenartig angesehen. Die Blicke hatten Nandalee an eine Spinne denken lassen, die darüber nachdachte, ob sie ein Opfer einspinnen oder sofort verspeisen wollte. Amalaswintha passte nicht in das Bild, das sie sich von Zwergen gemacht hatte. Nandalee war froh, wenn sie aus der Tiefen Stadt fliehen konnte. Nur Hornboris Heim musste sie noch finden. Ein Tag vielleicht noch, dann war ihre Aufgabe hier erledigt!
Die Elfe schloss den Gürtel und zog ihr Wams zurecht. Dann folgte sie Geberic.
Er führte sie tiefer hinab in das Höhlensystem. Amalaswintha war die Herrin eines eigenen Höhlenkomplexes, der sich auffällig von den anderen Tunneln unterschied, die Nandalee bislang in der Tiefen Stadt gesehen hatte. Es gab hier keine scharfen Kanten. Alles war rund oder zumindest abgerundet. Selbst die Decken der Tunnel, die Türen und Tore. Auch gab es hier mehr Licht und Farben. Neben Steinmetzarbeiten schmückten häufig farbenfrohe Fresken die Wände. Sie zeigten Wälder oder weite Wiesen in strahlendem Sonnenlicht. Allein sie anzusehen weckte in Nandalee die Sehnsucht nach dem weiten, blauen Himmel. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie es sein mochte, ein ganzes Leben tief im Fels zu verbringen. Sie war dafür nicht geschaffen, und wenn sie die Bilder an den Wänden betrachtete, fiel es wohl auch nicht allen Zwergen leicht.