Shaya kniete neben den bauchigen Amphoren nieder und strich über die Deckel aus altem, bröckelndem Kork. Sie waren in verschiedenen Farben gehalten, sodass selbst jene, die die Schriftzeichen auf den Wachssiegeln nicht entziffern konnten, wussten, welche Karten wo verwahrt wurden.
Die Prinzessin strich über die blassblaue Glasur jener Amphore, in der ihr größter Schatz verborgen lag. Das Wachssiegel war nicht erneuert worden, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie hatte es mit einer Knochennadel aufgeritzt und später versucht, das Wachs mit ihren Daumen wieder zusammenzupressen. Sie legte ihren Daumen in den Abdruck ihrer Kindheit. Breit und lang war er geworden, mit einer feinen Narbe auf dem Gelenk.
Shaya hob den Korkdeckel ab und streckte den Arm durch den weiten Mund der Amphore. Ihre Fingerspitzen tasteten über Knochen. Es waren Schulterblätter von Pferden, Ochsen und Kamelen. Sie bekam eines zu packen und zog es empor. Mit einem feinen Knirschen kratzte der Knochen am Amphorenhals.
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Antlitz, als sie die Karte erkannte. Sie war ihr einst die liebste gewesen. Sie zeigte die ganze Welt. Vom Gefiederten Haus an den fernen Küsten des östlichen Meeres bis hin zu den Schwimmenden Inseln tief im Westen, von denen keine der Tontafeln im Zelt ihres Vaters zu berichten wusste. Viele Stunden hatte sie hier gelegen, zum roten Zelthimmel emporgeblickt und vom Sonnenuntergang an fernen Gestaden geträumt. Sie hatte versucht, sich das Gefiederte Haus vorzustellen. Anfangs war es in ihrer Fantasie eine große Jurte gewesen, auf die man Federn aufgenäht hatte. Später, nachdem sie die Paläste am Seidenfluss gesehen hatte, stellte sie sich ein Haus aus schillernd glasierten Tonziegeln vor, in die Vogelfedern geprägt waren.
Shaya atmete schwer aus. Wieder überlief sie ein Kälteschauer. Das Träumen würde ihr wohl ausgetrieben werden. Sie war weiter gereist, als sie es sich in ihrer Kindheit hatte vorstellen können. In eine fremde Welt, von der es in der Roten Jurte, zumindest als sie klein gewesen war, noch nicht einmal Karten gegeben hatte. Sie war in Wolkenschiffen über den Himmel gesegelt. Hatte das Purpurne Meer mit all seinen Wundern erblickt. Bald würden ihre Träume auf die Spitze einer Nadel aufgespießt werden.
Sie hörte, wie die Plane am Eingang zurückgezogen wurde. Der Holzboden der Jurte knarrte. Sie sah sich um, um Fassung bemüht. Sie würde ihrem Schicksal, wenn schon nicht mit einem trotzigen Lächeln auf den Lippen, dann doch zumindest in gefasster Ruhe begegnen.
Zwei Eunuchen hatten das Zelt betreten. Das Zeichen der Echse war ihnen auf die Stirn tätowiert, sodass jeder wusste, sie hatten keine Zunge mehr und konnten allenfalls zischende Laute wie eine zornige Echse hervorbringen. In ihren Wickelröcken und mit ihren mit schwarzer Tusche umrandeten Augen wirkten sie weibisch. Die Schädel waren kahl rasiert. Einer nickte ihr freundlich zu.
Shaya erwiderte den Gruß nicht. Wie konnte der Kerl sich erdreisten, ihr zuzunicken? Solche plumpen Höflichkeiten waren dem Anlass ihrer Begegnung nicht angemessen. Verspottete der Eunuch sie etwa?
»Ihr erstaunt mich, ehrenwerte Prinzessin.« Der Heiler kam in die Jurte. Er schritt lautlos wie eine Katze. Auf seinem schmalen Gesicht lag ein Lächeln, das nicht hinauf bis zu den Augen reichen wollte. »Ich hätte nicht erwartet, dass Ihr vor der Zeit zugegen sein würdet.«
»Die Tugend der Pflichterfüllung ist nicht allein am Seidenfluss bekannt«, entgegnete sie kühl.
Der Heiler hielt inne und musterte sie eindringlich. Schließlich nickte er bedächtig. »Bitte entschuldigt, wenn ich Euch mit meinen Worten unrecht getan habe. Dies lag niemals in meiner Absicht. Seid versichert, dass Ihr mich bereits am gestrigen Tage beeindruckt habt, Prinzessin Shaya. Und nun vertieft Ihr meine Hochachtung noch weiter. Ergebenheit in sein Schicksal ist tatsächlich eine Tugend, die in meinem Volke ebenso hoch geschätzt wie selten erreicht wird.« Er legte ein Bambusrohr mit einem Lederverschluss auf dem Kartentisch ab und lud sie mit formvollendeter Geste ein, sich auf dem zweiten Tisch niederzulassen.
Shaya legte die Karte zurück in die Amphore und verschloss sie mit dem Korkdeckel. Diesmal versuchte sie nicht die Spuren im Wachs verschwinden zu lassen. Wehmütig betrachtete sie den Abdruck ihres kleinen Daumens, die letzte Spur glücklicherer Zeiten. Dann ging sie hinüber zu dem Tisch.
Der Heiler zog ein kleines, grünes Fläschchen aus seinem Ärmel. »Ich habe einen Schlaftrunk für Euch vorbereitet, ehrenwerte Prinzessin. So werdet Ihr von den Unannehmlichkeiten, die ich Euch, zu meinem Bedauern, auf Geheiß Eures Vaters bereiten muss, nichts spüren.«
»Noch bin ich eine Kriegerin, Miau. Ich bin es nicht gewohnt, vor meinen Feinden die Augen zu verschließen. Und in meiner letzten Schlacht werde ich ganz gewiss nicht meine Gewohnheiten ändern.«
Der Heiler stellte das Fläschchen auf den Kartentisch. »Es schmerzt mich, dass Ihr in mir einen Feind seht, Prinzessin. Und wenn Ihr Euch schon der Metaphern des Krieges bedienen müsst, so seid versichert, dass ich diese Schlacht ebenso wenig aus freiem Willen liefere, wie Ihr es tut. Da Ihr, die Ihr mir von allen, die ich fragte, als überaus ehrenhaft geschildert wurdet, beschlossen habt, mich als Feind zu betrachten, erlaube ich mir, Euch um eine Gunst zu bitten. Bitte nennt mich nicht bei einem Spottnamen. Mein Name als erwachsener Mann, den mir mein ehrenwerter Vater zur Freude meiner Mutter am Abend, an dem ich meine Studien vollendete und mir das grüne Ehrengewand des Heilkundigen verdiente, gab, lautet: Shen Yi Miao Shou.«
Shaya zögerte. Warum sollte sie dem Mann, der sie verstümmeln würde, Ehre erweisen? Auf der anderen Seite wollte sie ihr Dasein als Kriegerin nicht mit dem Vorwurf beenden, zuletzt ehrlos gehandelt zu haben. »Shen Ji Miau Shou?«, versuchte sie es leise.
»Nicht vollkommen, doch wiegt der gute Wille den geringen Makel Eurer Aussprache mehr als auf.« Er lächelte. »Wenn Ihr Euch nun bitte hinlegen würdet, ehrenwerte Prinzessin? Ich werde unsere beiden Gehilfen jetzt bitten, Euch an den Tisch zu schnallen, und darüber wachen, dass dies mit der größtmöglichen Zurückhaltung geschieht und nicht einmal der Verdacht einer unsittlichen Berührung einen Schatten auf das strahlende Licht unseres gegenseitigen Respekts werfen wird.«
»Ich brauche das nicht«, entgegnete sie scharf. »Bislang kann ich mich rühmen, auch nicht gezappelt zu haben, wenn meine Wunden vernäht wurden.«
»Mit Verlaub, ehrenwerte Prinzessin, doch was mir heute zu tun auferlegt wurde, gestattet nicht den Vergleich mit dem Vernähen einer Wunde im Gefolge eines Gefechtes. Dies ist ein diffiziler Vorgang, der es unbedingt erfordert, dass Ihr stillhaltet.«
»Wozu ich durchaus in der Lage bin«, entgegnete sie kühl.
Shen Yi Miao Shou griff nach dem Bambusrohr auf dem Kartentisch und drehte es unschlüssig in den Händen. »Bitte erlaubt mir, auf die vielen Jahrzehnte meiner Erfahrung hinzuweisen und … Oops.« Das Bambusrohr entglitt seinen Händen und schlug mit der Kante seitlich gegen ihr Knie, woraufhin ihr Bein vorschnellte.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Er lächelte, und diesmal bildete sich auch um seine Augen ein feines Netz aus Lachfältchen. »Vor allem entschuldige ich mich, mich so billiger Jahrmarktsgaukelei bedient zu haben. Natürlich war es kein Unfall, dass mein Bambusrohr vor Euer Knie schlug. Ich wollte Euch lediglich verdeutlichen, dass das Fleisch, das unserer Seele Heimat ist, manchmal Bewegungen ausführt, die nicht der Kontrolle unseres Geistes unterliegen.«
»Du hast mich überrascht, Shen Yi. Ein zweites Mal wird dir dies nicht gelingen.« Kaum dass die Worte über ihre Lippen waren, schlug er ihr ein weiteres Mal mit dem Bambusrohr vor das Knie, und wieder schnellte ihr Bein vor.
»Bitte verzeiht mir in unser beider Interesse, so unhöflich zu sein, auf der Richtigkeit meiner Worte zu beharren.« Er nickte den beiden Eunuchen zu, die bislang reglos neben dem Kartentisch gestanden hatten. »Bindet die hochwohlgeborene Prinzessin bitte auf den Tisch.«