Выбрать главу

Shaya wollte aufstehen, als der Heiler ihr mit einer kurzen, kräftigen Bewegung den Daumen in das Sonnengeflecht unter ihrem Rippenbogen stieß. Ein jäher Schmerz brandete durch ihren Leib bis in die Fingerspitzen. Nach Luft schnappend, knickte sie ein. Einen Herzschlag nur, da packten sie schon die beiden Eunuchen und schnallten ihre Arme und Beine auf den Tisch.

»Ich bitte erneut vielmals um Entschuldigung für mein überaus despektierliches Vorgehen, verehrte Prinzessin, doch war Euer Vater von unmissverständlicher Deutlichkeit in seiner Forderung, dass ich eine gewisse Eile walten lassen solle.«

Shaya war unfähig zu antworten. Immer noch rang sie japsend um Luft. Dabei bäumte sie sich gegen ihre Fesseln auf.

Shen Yi Miao Shou nahm die Lederkappe vom Bambusrohr und ließ mit feinen Seidenbändern gebündelte Nadeln daraus hervorgleiten. Sorgsam legte er die Bündel auf ein Seidentuch auf dem Kartentisch. Die Nadeln waren aus Gold und Silber. Einige waren gebogen, andere hatten linsengroße Harzkügelchen auf ihre Köpfe gepresst. Manche der Nadeln waren kurz, einige aber auch mehr als doppelt so lang wie ihr Zeigefinger.

»Die Anspannung schadet Euch, Prinzessin. Das beste Ergebnis werde ich erzielen, wenn Ihr Euch nicht verkrampft und Ihr ruhig und regelmäßig atmet.« Er blickte zu den Eunuchen auf. »Legt das letzte Lederband um ihre Stirn und schnallt den Kopf der ehrenwerten Prinzessin fest.«

Die beiden Sklaven machten keinen Hehl daraus, dass sie Freude an ihrer Aufgabe hatten. Shaya war wehrlos, aber sie konnte nicht aufhören zu kämpfen. Sie würde über sich ergehen lassen, was ihr Vater befohlen hatte, doch sie wollte, dass das Unvermeidliche wenigstens zu ihren Bedingungen geschah. »Ich verspreche Euch, dass ich stillhalte, Meister Shen Yi.« Sie wollte nicht jetzt schon ein willenloses Stück Fleisch sein. Sie wollte die Freiheit, Herrin ihrer selbst zu sein, bis zum letztmöglichen Augenblick auskosten.

»Mit Bedauern weise ich Euch darauf hin, dass Ihr mir gerade versprecht, was Menschen nicht möglich ist. Ich werde Euch nun helfen, Euch zu entspannen, hochgeschätzte Prinzessin.«

Etwas stach seitlich in ihren Hals. Ihre Muskeln erschlafften augenblicklich. Ihr Kopf sank zurück.

Der Heiler nahm eine der sehr langen Nadeln vom Seidentuch. Shaya stellte sich vor, wie das Silber an ihrem Auge vorbei bis tief in ihren Kopf drang. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte das nicht sehen. Fühlte sich müde. Besiegt. Sie hatte keine Kraft mehr weiterzukämpfen. Und sie wollte nicht wissen, wie er es tat. Zum ersten Mal seit Langem ergab sie sich ihrer Angst und kniff die Augen zu, als Shen Yi sich über sie beugte.

Der Heiler legte ihr seine zarte Hand auf die Stirn. »Nur ein Stich noch, Prinzessin, und Ihr werdet nichts mehr spüren.«

Der Weg in den Krieg

Narek sah sich mit weiten Augen um. Er stand auf dem Hof des Palastes des Unsterblichen Aaron. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal nach Akšu zu gelangen. Und wenn er ehrlich war, machte ihm der Grund, aus dem er hier war, Angst. Irgendwo hinter den hohen Mauern, die den Hof umgaben, brüllte ein Raubtier. Ein Löwe? Es hieß, hier im Palast gäbe es eine Löwengrube, und der Unsterbliche Aaron würde die Bestien mit Haremsdamen und Priestern füttern, die sein Missfallen erregt hatten. Narek sah sich unsicher um. War der Unsterbliche hier? Vielleicht auf der Terrasse vor dem riesigen Haus mit der Front aus roten Säulen? Es musste ungemütlich sein, in so einem Haus zu wohnen, wo die Decke so hoch war, dass man sie nicht einmal dann mit der Hand berühren konnte, wenn man sich auf einen Tisch stellte.

Narek dachte an sein einfaches Lehmhaus. Im Winter, wenn sie Läden vor die beiden kleinen Fenster gehängt hatten und ein Feuer aus Ziegendung glomm, war es wunderbar gemütlich. Er liebte es, mit seinem kleinen Sohn Daron in die Glut zu starren und ihm Geschichten zu erzählen. Er war kein guter Erzähler. Er kannte nur ein paar Märchen, die er früher von seiner Mutter gehört hatte. Und manchmal dachte er sich Geschichten über seinen Freund Artax aus, der nach Nangog gegangen war, als Daron noch an Rahels Brüsten gelegen hatte. Eines Tages würde Artax zurückkommen, und er würde ein reicher Mann sein. Man konnte drei Mal im Jahr auf Nangog ernten. Und wenn man in die Berge wanderte und keine Furcht vor den Geistern der Wildnis hatte, konnte man dort Gold in den Flüssen finden. Artax war immer ein Träumer gewesen, der sich ein Leben vorstellte, das anders war, als man es in einem Dorf wie Belbek führte. Er hatte sich sogar ein Weib erträumt. Irgendeine dürre Ziege, mit der er darüber stritt, wie man die Welt verbessern konnte. Er hatte sich sogar einen Namen für diese Frau, die es nicht gab, ausgedacht: Almitra. Narek schmunzelte. Ein bisschen verrückt war Artax schon gewesen. Aber ein guter, zuverlässiger Freund. Wenn er Daron von ihm erzählte, vertrieb Artax mit seiner Hacke grimmige Wölfe in den Wäldern von Nangog, oder er fand Goldklumpen, groß wie Taubeneier, musste sich aber gegen die Flussgeister wehren – Weiber mit wunderschönem, goldenem Haar, bezauberndem Lächeln, aber Herzen, die Mördergruben waren.

Wenn Daron in seinen Armen einschlief, tadelte Rahel ihn manchmal, dass er seinem Sohn so schaurige Geschichten erzählte. Aber sie war nie lange mürrisch. Sie hatte ein großes Herz. Sie war ganz anders als die Frau, die Artax sich erträumte. Ein wenig mollig, mit lockigem Haar und vollen Lippen. Narek seufzte. Ein halbes Jahr würde es wohl noch dauern, bis er wieder zu Hause in Belbek sein würde. Vielleicht war Artax sogar früher wieder zurück als er. Dann würden sie zusammensitzen und sich von ihren Abenteuern erzählen.

Narek ging zur Nordseite des Hofes. Dort hatten sich, im Schatten einer hohen Mauer, etliche der neuen Krieger niedergelassen. Palastdiener eilten mit Wasserschläuchen herbei. Narek spuckte den Kiesel, den er lutschte, wenn es nichts zu trinken gab, in seine offene Hand und ließ ihn in einen Beutel an seinem Gürtel fallen. Es war ein guter Kiesel. Fast rund. Ganz ohne Kanten.

Zwischen den Rastenden entdeckte er Ashot. Er war der einzige andere Krieger aus Belbek. Es war Pech, dass sich ausgerechnet Ashot bei den Werbern gemeldet hatte. Er war ein hagerer, mürrischer Kerl mit strähnigem, schwarzem Haar. Er schaffte es irgendwie, immer unrasiert zu sein. Und selbst Leute, die ihn noch gar nicht kannten, gingen ihm aus dem Weg. Er hatte etwas an sich, das Ärger verhieß. Dabei war er früher ganz anders gewesen. Es lag alles nur an den Schweinen. Ein paar Monde, nachdem Artax gegangen war, hatte Ashots Vater fast all sein Land verkauft und dafür Schweine ins Dorf geholt. Dutzende! Der Alte war überzeugt, dass Säue, Ferkel und Eber ihn reich machen würden. Dabei war er schon ein reicher Bauer gewesen! Ein Jahr lang sah alles ganz gut aus. Dann hatten sich die Viecher irgendeine Seuche gefangen. Binnen zehn Tagen verreckten sie alle. Und der Priester befahl, dass ihre Kadaver hinaus ins Ödland geschafft wurden. War ’ne verdammte Schande um all das schöne Fleisch gewesen.

Ashots Vater hatte die Sache nicht gut verkraftet. Eines Nachts hatte er sich an der Zeder am Dorfbrunnen erhängt. Kein halbes Jahr später war ihm sein Weib ins Grab gefolgt. Angeblich war sie an gebrochenem Herzen gestorben.

Vielleicht könnte er Ashot ja doch ein Lächeln auf die Lippen locken, dachte Narek. Er baute sich vor ihm auf und schlug sich mit der Faust auf die Brust, so wie Krieger es taten, wenn sie einander grüßten.

Ashot blickte missmutig auf. »Mach dich nicht lächerlich, Narek.«

Das war Ashot, wie er leibte und lebte. Ein verdammter Widerling! Er ließ sich neben ihm nieder und winkte einem Diener, auch ihm Wasser zu bringen. Der Kerl kam tatsächlich! Unglaublich! Als sei er ein Fürst.

»Habt ihr hier auch Honigkuchen?«

»Nicht für dich!« Der Diener hatte einen geölten Bart und eine blütenweiße Tunika. Er war von auffällig heller Haut. Wahrscheinlich musste er so gut wie nie die Mauern des Palastes verlassen. »Für euch gibt es nur Wasser aus dem Brunnen, aus dem wir sonst das Vieh tränken.«