Ashot schnappte schneller nach dem Kerl, als eine Schlange zustoßen konnte. Er hatte den Diener genau zwischen den Schenkeln gepackt. Dieser ließ den schweren Wasserkrug fallen und wollte zu einem Schlag ausholen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne und stieß ein schrilles Quieken aus.
»Wir sind hier, um für Kerle wie dich auf einem Schlachtfeld am Arsch der Welt den Kopf hinzuhalten. Es ist mir egal, wenn ich Wasser aus einem Viehbrunnen trinke. Aber wenn so ein aufgeblasenes rosa Schweinchen daherkommt und glaubt, meinen Freund Narek wie Vieh behandeln zu müssen, werde ich empfindlich. Hast du das verstanden?« Ashot drückte noch einmal zu, und dem Diener traten Tränen in die Augen.
»Bitte aufhören. Bitte …«
»Mein Freund Narek würde jetzt gerne eine Entschuldigung hören. Etwas, wobei auch mir richtig das Herz aufgeht.«
Narek blickte zu dem Aufseher. Er sah zu ihnen herüber. Sicher würde er gleich kommen. »Das muss wirklich nicht sein …«
»Du hältst die Klappe, Narek. Hier redet jetzt nur unser kleines Schweinchen.«
»Ich bitte um Verzeihung … Ich …«
»Das musst du Narek sagen.« Zum ersten Mal seit Wochen spielte ein Lächeln um Ashots Lippen. Doch es reichte nicht bis zu seinen dunklen Augen. »Und noch etwas ehrerbietiger, wenn ich bitten darf.«
Der Diener keuchte. Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Narek war das Ganze fürchterlich peinlich. Er wünschte, er würde im Boden versinken.
»Ich bitte untertänigst um Verzeihung, dass ich mich Euch gegenüber im Ton vergriffen habe, ehrenwerter Narek. Und selbstverständlich werde ich Euch gerne einen Honigkuchen holen, um Euch damit zu erquicken.«
Die Männer ringsherum lachten und spotteten über den Diener.
Ashot ließ den armen Kerl los. Er japste, schnappte sich den Krug, der zu Boden gefallen war, und machte sich eilig davon.
»Das wird Ärger geben.«
»Ich glaube nicht, dass unsere Zeit hier für Ärger reicht«, entgegnete Ashot ruhig.
»Wie kommst du darauf?«
Sein Freund nickte in Richtung des Palastes mit den roten Säulen. »Der Löwe ist gekommen. Es geht weiter.«
Narek fuhr erschrocken herum. Ein silberner Löwe schritt die Treppen zum Palast hinab. Er war ganz und gar aus Metall erschaffen und doch lebendig. Groß wie ein Pferd kam er Narek vor, der unwillkürlich ein Stück zurückwich. Totenstille lag jetzt auf dem weiten Hof. Alle starrten den Löwen des Unsterblichen an. Jeder hatte schon Geschichten über ihn gehört.
»Ich wünschte, wir würden den ganzen Weg zu Fuß hinter uns bringen«, flüsterte Narek. »Ich gehe gerne zu Fuß.«
»Ich nicht«, entgegnete Ashot. »Mir haben die letzten Wochen gereicht. Meine Füße sind wund, und bis zur Ebene von Kush sind es noch mehr als tausend Meilen. Oder aber ein paar Schritt.«
»Wir würden so viele wunderbare Orte sehen …« Narek verstummte. Zwei Schlangen aus kaltem, blauem Licht wanden sich aus dem Sand inmitten des Hofes. Ihre Leiber bäumten sich auf und neigten sich einander zu, bis sie einen schillernden Lichtbogen bildeten. Und zwischen ihnen öffnete sich ein Tor aus Dunkelheit.
»Scheiße, da gehe ich nicht durch.«
»Du möchtest also lieber bei den freundlichen Palastdienern bleiben? Nach dem Auftritt von eben halten sie dir sicher einen Ehrenplatz in der Löwengrube frei.«
»Du warst es doch! Ich hab gar nichts …«, begehrte Narek auf.
»Stimmt, wie konnte ich das vergessen. Diese Speichellecker sind berühmt für ihren Gerechtigkeitssinn. Sie werden dir sicher nichts antun.« Ashot erhob sich.
Ihre Scharführer riefen Befehle und ordneten die Männer in eine lange Reihe. Aleksan, der Werber, der in ihr Dorf gekommen war, trat ihnen entgegen. Er war ein bulliger Kerl mit einem Rotstich in seinem dunklen Bart und unfreundlichen Schweinsäuglein. »Los, ihr Hasenherzen! Ich bin schon ein Dutzend Mal durch dieses Tor gegangen. Bleibt auf dem Weg, und euch wird nichts geschehen. Aber wenn ihr hierbleibt …« Er hob seinen knotigen, armlangen Stock. »Wer glaubt hierbleiben zu müssen, wird mit meinem Knüppel tanzen.«
»Ich kann da nicht durchgehen.« Narek schlotterten die Knie. »Ich geh nicht in die Finsternis.«
Ashot packte ihn bei der Hand und zerrte ihn hoch. »Du wirst jetzt nicht kneifen, Mann! Was soll denn Daron von dir halten, wenn er hört, dass du Angst im Dunkeln hast?«
Narek schluckte. »Davon haben die Werber nichts gesagt. Ich habe mich gemeldet, um die Luwier zu vertreiben, die zusammen mit den Ischkuzaia in unser Königreich einfallen wollen, um unsere Frauen zu schänden und unsere Kinder in die Sklaverei zu treiben. Ich bin nicht hier, um über den Abgrund zwischen den Welten zu schreiten.«
»Diese Ammenmärchen hast du wirklich geglaubt? Du meinst, wir verteidigen die Freiheit unseres Dorfes in Kush? Hast du allen Ernstes gedacht, irgendwelche Plünderer würden bis nach Belbek kommen?« Ashot zog ihn mit sich. »Ich seh schon, ich muss dein Kindermädchen spielen.«
»Du meinst, die Werber, die im Auftrag des Unsterblichen durch das Land gezogen sind, haben uns angelogen?« Das konnte nicht sein! Narek konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der im Namen des Unsterblichen Aaron sprach, es wagen würde, Lügen zu erzählen.
»Was glaubst du, warum niemand mitgekommen ist?«, fragte Ashot. »Du bist der Einzige, der ihnen auf den Leim gegangen ist. Tut mir leid.«
»Aber du bist doch auch hier.«
»Ich bin hier, weil mir Belbek nichts mehr zu bieten hatte. Mein Leben ist vorüber. Für mich gibt es nichts mehr. Aber ich werde es nicht so machen wie mein Vater … Mir muss schon ein Luwier den Rest geben.«
»Du willst sterben?«
»Das ist wohl die einzig vernünftige Konsequenz, wenn einem das Leben nichts mehr zu bieten hat.«
»Aber ich bin doch dein Freund. Ich werde dir helfen. Warum sagst du denn nichts zu mir? Freunde sind dazu da, dass man mit ihnen seine Sorgen teilt. Ich werde dich in der Schlacht beschützen.« Narek hörte Ashot scharf einatmen, aber dann sagte sein Gefährte doch nichts.
Sie waren nur noch wenige Schritt von dem unheimlichen Tor entfernt. Die Männer, die hindurchtraten, verschwanden einfach. Narek sah keine Schattenrisse von ihnen. Nichts. Obwohl er deutlich einen goldenen Pfad erkennen konnte, der durch die Finsternis führte.
»Weicht nicht vom Pfad ab«, ermahnte ein in Rot und Gold gewandeter Priester jeden, der durch das Tor trat.
»Denk an die Geschichte, die du Daron erzählen kannst«, sagte Ashot plötzlich und drückte seine Hand. Dann waren sie an der Reihe.
Narek spürte sein Herz wie rasend schlagen. Ashot zog ihn hinter sich her in die Dunkelheit. Narek blickte hinab auf seine Füße. Da war kein fester Boden mehr. Nur dieses goldene Leuchten, in das er ein wenig einsank, als ginge er über schlammigen Grund. Doch nichts haftete an den Sohlen seiner Sandalen. Er staunte. Das eigenartige Licht hatte etwas an sich, das ihn Hoffnung schöpfen ließ. Vielleicht würde der Abgrund zwischen den Welten ihn ja doch nicht verschlingen.
Sie traten in helles Licht. Jetzt war staubiger Boden unter ihren Füßen. Ringsherum kauerten Männer, wühlten mit ihren Händen im Sand und dankten lauthals den Göttern. Auch Narek sank auf die Knie. Er küsste den Sand. Als er aufsah, traf ihn Ashots spöttisches Lächeln. »Kennst du keine Dankbarkeit mehr?«
»Warum sollte ich mich bedanken, etwas behalten zu haben, auf dessen Besitz ich keinen Wert mehr lege?«
»Niemandem ist es gleichgültig, ob er lebt oder tot ist. Du kannst mir nichts vormachen.«
Ashot blieb ihm eine Antwort darauf schuldig.
»Auf die Beine mit euch«, rief Aleksan und unterstrich seine Worte mit drohend erhobenem Knüppel. »Wir müssen noch über den Fluss. Wenn wir das Heerlager erreicht haben, könnt ihr den Sand küssen oder mit ihm treiben, was euch sonst noch in den Sinn kommt. Aber jetzt werdet ihr laufen.«