Die Männer formierten sich zu einer Kolonne. Narek sah sich um. Was für eine trostlose Gegend. In seiner Vorstellung war Kush immer ein grünes Tal gewesen, umstanden von schneegekrönten Gipfeln. Ein paar Meilen nördlich erhob sich tatsächlich ein Wall rotbrauner Berge. Reihe auf Reihe stiegen sie immer weiter dem Himmel entgegen, wie eine Treppe, die für Riesen erschaffen worden war. Er hätte so gerne einmal Schnee gesehen! Und sei es nur von ferne.
Sie passierten eine flache Hügelkette und stiegen in ein ausgetrocknetes Flussbett hinab. Jeder ihrer Schritte wirbelte roten Staub auf. Er ließ die Zunge verdorren und brannte in den Augen. Narek holte den Kiesel aus seinem Beutel und schob ihn in den Mund. Ein wenig Speichel sammelte sich unter seiner Zunge und machte die Dürre erträglicher.
Jenseits des Flussbetts erstreckte sich eine endlose Ebene, über die sich vereinzelt flache Hügel erhoben. Nicht weit entfernt entdeckte Narek ein paar Bäume. Dort standen auch Zelte. Er hörte ein Maultier schreien. Auf einem Hügel, etwa eine Meile entfernt, loderte eine Flamme empor. Eine einzelne Gestalt stand bei dem Feuer. Sonnenlicht brach sich funkelnd auf seinem goldenen Helm. Das musste der Unsterbliche Aaron sein, dachte Narek. Er war gekommen, um sie zu grüßen. Stolz erfüllte den Bauern aus Belbek. Er würde seinem Herrscher gut dienen, und in weniger als einem halben Jahr, wenn das alles hier vorüber war, würde er Daron eine wunderbare Geschichte erzählen. Eine Geschichte über sich, Narek. Und nicht über Artax, der nach Nangog gegangen war, oder ein Märchen von seiner Mutter. Jetzt war es an ihm, ein großes Abenteuer zu erleben!
Von der Gnade, ein Unsterblicher zu sein
Artax beobachtete die Kolonne der neuen Rekruten, die durch das staubige Flussbett zum Lager hinaufmarschierte. Mehr Fleisch für den Altar der Götter, dachte er bitter und blickte auf die Flamme, die er auf dem schlichten Altarstein vor sich entzündet hatte. Mochten die Götter das Leben dieser Männer beschützen, dachte er traurig. Er konnte es nicht. Die Ereignisse hatten ihn überrollt.
Was zählen ein paar Bauern? Sie wachsen nach wie Korn auf den Ähren. Sie sind ohne Bedeutung, meldete sich die Stimme Aarons in ihm.
»Auch ich bin Bauer.«
Dann weißt du ja jetzt, wie viel du in dieser Welt bedeutest, hallte es in seinen Gedanken.
Die Flamme auf dem Altar schoss empor, als habe er Öl ins Feuer geschüttet. Erschrocken wich Artax zurück. Eine Gestalt erschien inmitten der Flammen. Ein großer, löwenhäuptiger Krieger. Leichtfüßig sprang er vom Altar. Er war nackt. Seine Muskeln schimmerten im Sonnenlicht, als seien sie soeben erst gesalbt worden. Wohlgeruch ging von dem Devanthar aus, als sei er geradewegs aus einem Garten mit blühenden Rosen gekommen.
Artax unterdrückte den Impuls, sich zu Boden zu werfen. Er war der Einzige in seinem Königreich, dem es zustand, vor dem Gott aufrecht zu stehen. Unter allen Sterblichen hatte der Löwenhäuptige ihn, einen Bauern, der in Nangog sein Glück gesucht hatte, auserwählt. Artax wusste, welch günstiges Schicksal dies gewesen war, und ihm war auch bewusst, dass der Devanthar ihn ersetzen würde, sollte er dessen Missfallen erregen. Früher hatte er oft seinen Träumen nachgehangen. Nun konnte er Träume Wirklichkeit werden lassen. Er, ein Bauer aus Belbek, hatte die Liebe einer Prinzessin gewonnen.
Nur dass sie nicht weiß, dass du ein Bauer warst.
Artax ignorierte die Stimme. Er konnte die ganze Welt verändern, wenn er nur entschlossen genug dafür kämpfte.
»Du hast mich gerufen, Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Du zweifelst an mir?«
»Ich brauche göttlichen Beistand.« Er blickte in die bernsteinfarbenen Augen des Devanthar. Die geschlitzten Pupillen des Löwenhäuptigen verengten sich zu schmalen Strichen. »Sprich.«
»Ich möchte das unsinnige Blutvergießen verhindern. Diese Schlacht wird Tausende das Leben kosten.«
»Gib die Provinz Garagum auf. Erkläre Muwatta zum Sieger in eurem Streit, und kein Blut wird vergossen werden. Dein Stolz wird leiden. Dein Traum, vor den Devanthar im Gelben Turm zu sprechen, wird zu Asche zerfallen. Aber du wirst deine Bauern vor den Eisenschwertern der Luwier gerettet haben. Allerdings hast du mich dann mit deinem wenig königlichen Verhalten vor meinen Brüdern und Schwestern zum Gespött gemacht. Auch das hat einen Preis.«
Du wirst doch jetzt nicht deine hehren Prinzipien aufgeben, mein Freund. Was ist schon ein Leben gegen das Leben Tausender, spottete Aarons Stimme.
»Muwatta ist ein schlechter Herrscher. Warum zieht ihr ihn nicht zur Verantwortung?«
»Weil sich Išta, meine geflügelte Schwester, von ihm gut unterhalten fühlt.«
»Ist das alles, wozu ihr uns Menschen erschaffen habt? Zu eurer Unterhaltung?«
Der Löwenhäuptige gab einen leisen Kehllaut von sich. »Du glaubst gar nicht, wie langweilig die Ewigkeit sein kann. Sind damit all deine Fragen beantwortet? Wie du siehst, bedarf es zur Lösung deiner Probleme keines Gottes. Dein Schicksal und das deines Reiches liegen allein in deiner Hand, Artax.«
»Aber die Daimonenkinder kommen nach Nangog!« Artax deutete auf das ferne Feldlager jenseits des trockenen Flusses. »Nicht Muwatta ist die Sorge dieser Welt. Du weißt, wie übermächtig die Daimonenkinder sind. Wir müssen uns ihnen vereint entgegenstellen, sonst werden sie uns Nangog entreißen. Und ohne Nangog wird es in allen sieben Königreichen schreckliche Hungersnöte geben.«
»Was weißt du schon über Zapote oder das Königreich der Schwimmenden Inseln! Du glaubst, du kennst die Welt, Artax? Du? Ein Bauer!«
»Wenn ich eine Ratte beim Vorratsspeicher sehe, dann weiß ich, dass es dort noch mindestens zehn andere gibt, die meinen Blicken verborgen geblieben sind. Und wenn ich nichts unternehme, werden die Ratten einen üppigen Winter haben und ich einen Frühling des Hungers. Wir müssen gegen die Daimonenkinder vorgehen. Alle gemeinsam. Und wir müssen es früh und entschlossen tun.«
Der Devanthar bleckte die Fangzähne zur Karikatur eines Lachens. »Glaubst du wirklich, mit solchen Bauernweisheiten beeindruckst du meine Brüder und Schwestern? Sieh dorthin, zu deinem Feldlager. Sieh, wie deine Untertanen voller Verzückung und Angst im Staub liegen. Was glaubst du, warum ich durch die Flammen getreten bin? Um sie zu beeindrucken. Und um dein Ansehen zu stärken. Du sprichst mit einem lebenden Gott und wimmerst nicht vor einem lächerlichen Altarbild. Keiner von denen dort unten wird bis ans Ende seiner Tage vergessen, was er gerade gesehen hat. Du willst die Aufmerksamkeit der Devanthar, Artax? Leiste dir einen Auftritt, der meine Brüder und Schwestern beeindruckt, und ich werde dich in den Gelben Turm bringen. Fege das Heer Muwattas von dieser Ebene. Nur wenn du hier Größe zeigst, werden dir auch die anderen Unsterblichen folgen. Siegt Muwatta, wird er endgültig zum Mächtigsten unter euch.«
Artax schüttelte den Kopf. »Was du verlangst, ist unmöglich. Ich kann lediglich fünftausend ausgebildete Krieger aufbieten. Die Übrigen sind Bauern und Handwerker, die noch nie auf einem Schlachtfeld gestanden haben. Muwatta hingegen hat mindestens zwanzigtausend erprobte Kämpfer. Und seine Männer haben Eisenklingen. Dort unten wird es keine Schlacht geben. Was dort stattfinden wird, ist ein Massaker!«
»Die Devanthar haben sich noch nie versammelt, weil ein Mensch es wünschte. Du wünschst das Unmögliche von mir, und ich werde deinen Wunsch erfüllen, wenn du vollbringst, was meine Brüder und Schwestern für unmöglich halten. Götter werden dir zusehen, Artax, wenn du dein Heer in die Schlacht führst. Siege, und du wirst erreichen, was noch keinem Menschen vor dir vergönnt war. Verweigere die Schlacht, und du verwirkst die Gnade, ein Unsterblicher zu sein.«
Artax blickte zum Feldlager. Es war zu weit entfernt, als dass er hätte sagen können, ob seine Untertanen sich vor dem Gott in den Staub geworfen hatten. War das ihr Schicksal, im Staub zu liegen? Was zählte ihr Leben gegen die Zehntausenden, die sterben würden, wenn Nangog an die Daimonenkinder verloren ging?