Sie hatten die Zwerge unterschätzt. Sie ahnten, dass die Drachen und mit ihnen die Drachenelfen kommen würden. Das war naheliegend, bei dem, was sie getan hatten. Die Ermordung des Schwebenden Meisters konnte nicht ungesühnt bleiben.
Tylwyth kam auf sie zu. Er wirkte ungeduldig, winkte ihr. Sie gab ihm ein Zeichen, stehen zu bleiben, aber er ignorierte es. Sie musste ihn aufhalten. Nandalee ließ alle Vorsicht fahren. »Bleib …«
Äste splitterten. Die Wipfel rings um den Maurawan wogten wie von Sturmwind gepeitscht. Tylwyth warf sich zu Boden und rollte zur Seite ab. Ein fassgroßer Baumstumpf, gespickt mit angespitzten Ästen, schwang über ihn hinweg und verschwand in der Dunkelheit. Keinen Herzschlag später schnellten Bretter mit fingerlangen Nägeln aus dem Waldboden. Der Maurawan sprang auf. Nur ein Hechtsprung rettete ihn vor dem zurückschwingenden Baumstumpf.
Nandalee eilte ihm entgegen. Dabei folgte sie in geducktem Lauf der Fährte der Zwerge. Dort, wo sie gegangen waren, konnte es keine Fallen geben. Zumindest nicht in Zwergenhöhe.
Tylwyth kauerte mit schreckensweiten Augen vor einem Baumstamm. Seine linke Hand war verletzt, die enge, graue Wildlederhose voller Schmutz und Blut. Von seiner selbstsicheren Eleganz war wenig geblieben.
»Schlimm?«
Er blickte auf. In seinem rußgeschwärzten Gesicht erschienen ihr seine Augen unnatürlich hell. Die blaugraue Iris war von einem schwarzen Rand eingefasst. Wolfsaugen, dachte Nandalee.
»Ich werde noch meinen Bogen halten können.« Seine Stimme klang gepresst. Tylwyth kämpfte gegen den Schmerz an.
»Lass mich deine Hand sehen!«
Widerwillig streckte er sie ihr entgegen. Er musste in eines der Nagelbretter gegriffen haben. Nandalee bezweifelte nicht, dass er seinen Bogen noch halten könnte. Aber wie sicher würde er noch schießen?
»Verbind das. Warum bist du nicht stehen geblieben, als ich dir ein Zeichen gegeben habe?«
»Sie singt.«
»Wer?«
»Bidayn. Sie singt. Die Zwerge müssen sie gehört haben. Sie gehen genau auf sie zu.«
Das konnte nicht sein! Nandalee lachte auf. Ein verzweifelter, freudloser Laut. Sie wusste es besser. Die Ereignisse auf Nangog hatten Bidayns Seele verletzt. Alles konnte sein!
Tylwyth stand auf und klopfte sich mit fahriger Geste den Schmutz von den Kleidern. »Cullayn ist vorausgeeilt. Er wird sie beschützen.«
Nandalee nickte. Sie fühlte sich der Gegenwart entrückt. Ihre Gedanken waren auf Nangog, der verwunschenen Welt. Bidayn hatte dort nach einer Macht gegriffen, die sie fast getötet hätte. Wer einen Zauber wob, sollte sich nicht gegen die Magie der Welt stellen.
Sie warnte Tylwyth vor den Fallen. Dann folgten sie beide in geducktem Lauf der Fährte der Zwerge.
Bald wechselte die Spur die Richtung. Nandalee hörte es. Ein Lied. Ohne Worte. Eine Melodie voller Schmerz und Einsamkeit. Der Wald schwieg. Selbst der Wind hatte aufgehört im Fichtengeäst zu flüstern. Es gab nur noch diese Stimme. Sie zog sie an wie ein Strudel, der das Wasser verschlingt und in dunkle Tiefen reißt.
Nandalee dachte an Gonvalon, rief sich sein Gesicht vor Augen. Nutzte sein Bild, um sich gegen den Zauber aufzubäumen. Endlich war sie frei.
»Was ist mit dir?« Tylwyth sah sie beunruhigt an. Er schien nicht unter Bidayns Bann zu stehen. Der Maurawan griff nach seinem Köcher und zog einen Pfeil hervor.
Nandalee entdeckte voraus den verwitterten Felsfinger, der sich aus dem Waldboden erhob. Bleich wie Knochen sah er im Mondlicht aus. Zerfurcht von Wind und Regen. Die Bäume wichen vor ihm zurück, als hätten sie Respekt vor dem uralten Fels. Bidayn stand an seinem Fuß. Gut sichtbar, umwoben vom silbernen Licht der Nacht.
Die Gruppe der Zwerge war zu einer Kette aufgefächert. Unruhig sahen sie sich um, drei von ihnen mit der Armbrust im Anschlag.
Ein wenig seitlich entdeckte Nandalee Cullayn. Der Jäger war fast eins mit dem schattenschwarzen Stamm einer Fichte. Er hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt.
Immer noch erklang das verwunschene Lied. Säte Melancholie in ihr Herz. Sie durfte sich dem nicht hingeben. Nandalee löste den Bogen von ihrem Köcher und zog eine Sehne auf. Verdammte Zwerge! Warum mussten diese Narren geradewegs ihrem Untergang entgegengehen!
Die Zwerge traten auf die Lichtung ins Mondlicht. Sie wirkten verstört. Sahen sich nervös um. Ruckartig bewegten sie die Köpfe. Nur zu dem Felsfinger blickten sie nicht.
Was ging hier vor? Was wollte Bidayn? Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge und betrachtete die magische Welt. Ein Gespinst dünner, leuchtender Fäden überzog die kleine Lichtung. Gold und ein warmes Rotorange waren die vorherrschenden Farben. Auch Blau und Lila sah sie. Die purpurnen Auren der Zwerge waren dicht von silbernen Fäden durchzogen. Nandalee musste unwillkürlich an Kokons denken, in die Spinnen Beute einwoben, die sie noch nicht sofort töten wollten. All diese silbernen Fäden liefen auf Bidayn zu.
Ein magisches Netz durchdrang die Welt. Lebewesen, Bäume, selbst Steine. Alles war miteinander verbunden. Befand sich in Harmonie. Zauberweber beeinflussten dieses Netz. Veränderte man es jedoch zu sehr, so konnte sich die Macht gegen den Zaubernden wenden, wie Bidayn auf Nangog auf schreckliche Art hatte erfahren müssen.
Einer der Zwerge hob seine Armbrust an die Schulter. Nandalee blinzelte und verschloss sich dem magischen Blick auf die Welt.
Das Licht des Mondes blitzte auf der scharf geschliffenen Spitze des Armbrustbolzens. Nandalee ahnte, dass Bidayn die Sinne der Zwerge manipulierte. Was sie wohl hörten?
»Ich nehme den Linken mit der Armbrust«, flüsterte Tylwyth.
Nandalee zögerte. Der vorderste der Zwerge war kaum noch fünf Schritt von Bidayn entfernt. Ruckhaft bewegte er seinen Kopf. Fast wie eine Marionette. Er sah nicht zu der Stelle, an der die Zauberweberin in einem weißen Kleid am Fels lehnte.
Der graubärtige Anführer hob jetzt die Hand. Die anderen Zwerge verharrten.
Nandalee hielt den Atem an.
Tylwyth zog die Sehne seines Bogens durch. Er hatte ein klares Schussfeld auf den Zwerg, den er sich zum Ziel erkoren hatte. Zehn Herzschläge, und die Zwerge würden tot auf der Lichtung liegen. Mehr würden sie nicht brauchen. Bidayn durfte nichts geschehen. Nur sie konnte sie zurückbringen. Nur sie vermochte den Drachenpfad zu öffnen, der sie zurück zu den Himmelsschlangen führte.
»Nicht!« Sie legte Tylwyth die Hand auf den Arm. Wenn sie die Zwerge töteten, war ihre Mission gescheitert. Sie durften keine Aufmerksamkeit erregen! Sie waren nur Späher. Sie sollten die Eingänge zur Tiefen Stadt erkunden und herausfinden, ob es Luftschächte gab, die weit genug waren, dass ein Elf durch sie in die Stadt eindringen konnte.
Tylwyth zischte etwas Unverständliches. Dann nahm er den Pfeil von der Sehne.
Nandalee war klar, dass ihre Mission ebenfalls gescheitert war, wenn Bidayn etwas zustieß. Ohne ihre Hilfe würden sie hier festsitzen. Nandalee wusste nicht einmal, wie weit der Berg von der Weißen Halle entfernt war. Unschlüssig strich sie über die Pfeile in ihrem Köcher. Was war die richtige Entscheidung? Bidayn würden sie befreien können, wenn etwas geschah. Mit toten Zwergen hingegen würden sie unumkehrbare Tatsachen schaffen. Sie zwang sich, die Hand vom Köcher zu nehmen. Sie durfte nicht schießen! Sie war die Anführerin. Sie musste beherrscht handeln.
Bidayn lehnte immer noch singend am Fels. Die Zwerge schienen sie nicht im Mindesten zu beunruhigen. Was wollte sie mit ihrem Zauber bezwecken? Wollte sie die Zwerge töten? Sie hätte Bidayn nicht mitnehmen dürfen. Nicht so kurz nach den Ereignissen auf Nangog. Ein Netz aus Narben entstellte ihr Gesicht. Feine rote Linien, die nicht verblassen wollten. Sie ließen die junge Elfe unheimlich erscheinen.
Der Anführer der Zwerge sagte etwas. Ein undeutlich gemurmelter Befehl. Seine Männer senkten die Armbrüste. Der Graubart schüttelte den Kopf, als könne er sich die Ereignisse nicht erklären. Dann führte er den Spähtrupp von der Lichtung.