Barnaba schöpfte mit der flachen Hand Wasser aus dem Teich. Er trank nur wenig. Er wusste, dass das kalte Wasser seinem Körper schaden würde, so erhitzt, wie er nach dem langen Anstieg war.
Ein Stück abseits des Teiches entdeckte er Ziegenkötel. Er hob einige auf und zerrieb sie prüfend zwischen den Fingern. Die meisten waren gut durchgetrocknet, aber nach einigem Suchen fand er auch frischen Kot. Das war gut! Damit war für sein Feuer gesorgt. Büsche gab es hier zu wenige, um mit ihrem dürren Astwerk über den Winter zu kommen. Aber die Ziegenkötel würden eine gute Glut geben.
Barnaba sah sich weiter um. Über das Tal hatte er nur Gerüchte gehört, nichts Konkretes. Natürlich sollte es hier auch spuken. Der Priester lächelte und dachte an seinen Lehrmeister Abir Ataš, den Hohepriester, den Aarons Schergen im Kerker ermordet hatten. Sein Meister hatte ihm gerne erzählt, dass es eine seiner Aufgaben gewesen war, sein Leben lang den Geschichten über Geister und Daimonen nachzuspüren. Zwei Mal war Abir Ataš einer Elfe begegnet. Andere Geister hatte er niemals gefunden. Die Spukgeschichten würden dafür sorgen, dass er hier seine Ruhe hatte, dachte Barnaba. Wichtig war, dass er einen geschützten Platz fand. Eine Höhle, eine tiefe Felsspalte, einen Ort, der ein wenig Wärme hielt und an dem er den Winterstürmen trotzen konnte. Wenn er den fand, dann war dies hier sein Tal.
Er ließ den Blick über die Felswände wandern, streifte umher, beobachtete, wie der wechselnde Stand der Sonne Schatten durch das Tal wandern ließ. Manchmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Einige Male drehte er sich abrupt um. Doch da war nichts. Barnaba schob dieses irrige Gefühl darauf, dass er sich an die Einsamkeit erst noch gewöhnen musste. Er war dafür nicht geschaffen. Bis die Priestermorde ihn zur Flucht gezwungen hatten, war er ein geselliger Mensch gewesen. Er hatte damals keine Wahl gehabt. Und Abir Ataš hatte richtig entschieden! Sie hatten nicht zulassen können, dass ein Daimonenkind so ehrenvoll wie ein Held der Menschenvölker bestattet wurde. Es hatte ein Zeichen gegen die Willkür Aarons gesetzt werden müssen. Es war kein Fehler gewesen, dass sie den Flugrahmen vor der Totenfeier beschwert hatten, sodass er mit der Daimonenleiche in den Abgrund stürzte, statt in den Aufwinden über dem Weltenmund zu segeln. Wie hätte er damals ahnen können, dass Aaron dafür Rache an Hunderten Priestern nehmen würde!
Barnaba sah sich zweifelnd in dem engen Tal um. Würde er die Einsamkeit ertragen? Wahrscheinlich wünschte er sich tief im Herzen, nicht allein zu sein. Das war der Acker, auf dem der Irrglaube gedieh, beobachtet zu werden. Vielleicht gab es auch irgendwo in den Klippen einen Ziegenbock, der ärgerlich auf den Eindringling in sein Revier hinabblickte. Der Priester lächelte. Er würde lernen, mit diesem Gefühl umzugehen.
Endlich fand er am Fuß einer Klippe einen breiten Spalt, den ein Felsklotz gegen den Nordwind abschirmte. Barnaba zwängte sich hindurch und stieß einen unvermittelten Freudenschrei aus, als sich der Spalt in eine Höhle weitete. Sie war nicht allzu groß. An den meisten Stellen müsste er geduckt gehen. Wie tief sie war, konnte er im Zwielicht nicht abschätzen. Sie verlor sich im Dunkeln.
»Hier kommen wir über den Winter!« Er schmunzelte, als er sich bewusst wurde, dass er schon wieder Wir gesagt hatte. Das war eine Marotte, die er sich auf seinen langen, einsamen Wanderungen angewöhnt hatte. Er sprach mit sich selbst und dabei verwendete er stets ein Wir. Auch dies half ihm, sich weniger einsam zu fühlen. Ihm war bewusst, dass er langsam absonderlich wurde. Aber Heiligen Männern stand es gut, etwas absonderlich zu sein.
Wenn er anerkannt absonderlich wäre, hätte er es auch leichter mit den halb wilden Nomaden in den Bergen. Er brauchte sie, um hier leben zu können. Die paar Wurzeln hier im Tal würden ihn nicht lange nähren, und er hatte keine Ahnung, ob die Bäume am Teich essbare Früchte tragen würden. Er würde alle zwei oder drei Wochen in die tiefer gelegenen Täler wandern müssen, um Gebete gegen Hirse, Bohnen, Reis und harten Käse einzutauschen. Ein Priester, der zur Geflügelten Sonne betete, zählte hier nichts, das hatte er schon gelernt. Aber ein absonderlicher, wilder Mann, der mit den Göttern sprach … Barnaba lächelte versonnen. »Wir schaffen das!«
Zu seiner Überraschung fand er eine Feuerstelle in der Höhle. Aber selbst im spärlichen Licht war zu erkennen, dass sie seit vielen Jahren nicht benutzt worden war. Beruhigt machte er sich auf die Suche nach ein paar trockenen Grasbüscheln und Ziegendung.
Bis zur Dämmerung hatte er sich in der Höhle eingerichtet. Neben dem Feuer lag ein beachtlicher Haufen trockenen Reisigs. Zwei Stunden hatte er gebraucht, um ihn zusammenzutragen. Und er hatte das halbe Tal dafür geplündert. Aber er war neugierig. Er wollte sehen, wo er hier war. Eine Fackel konnte er ohne Lumpen und Lampenöl oder einen harzbedeckten Ast nicht herstellen. Er konnte nur sein Feuer hell auflodern lassen. Ein paar Augenblicke lang.
Barnaba hatte etwas warmen Hirsebrei gegessen und sich eine Handvoll des streng rationierten Ziegenkäses gegönnt. Seit fast einem halben Jahr hatte er kein Fleisch mehr gegessen, weil er gehört hatte, dass sich dann der Geist öffnete. Er wollte den Göttern nahe sein. Wollte verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhielt. Warum ein Mann wie Aaron herrschen durfte.
Heulender Wind fing sich im Höhleneingang. Barnaba streckte seine Glieder. Er fühlte sich wohl. »Nun werden wir unserer Neugier huldigen.«
Er nahm das Reisig, warf es in die Glut aus Ziegendung und richtete sich auf.
Zwei Herzschläge nur, und die Flammen schlugen fast hüfthoch. Die Höhle war lang und schmal. Ein wenig gekrümmt. Wie ein Horn verjüngte sie sich nach hinten. Ganz am Ende klaffte ein dunkler Spalt. Die Decke war mit Zeichnungen von Wildziegen und seltsam zotteligen Kühen bedeckt, wie Barnaba sie noch nie gesehen hatte. Dazwischen tauchten als einfache Strichzeichnungen Menschen auf. Wie alt diese Bilder wohl waren? Der Künstler hatte nur drei Farben besessen, wie es schien – Weiß, Schwarz und ein Rotbraun. Für diese beschränkten Mittel waren die Bilder erstaunlich lebendig und ausdrucksstark geraten.
Barnaba warf den letzten Rest Reisig ins Feuer. Einem der Menschen sprossen gegabelte Hörner aus dem Kopf. Er trug einen Speer, wie es schien, und sein ausgestreckter Arm wies auf das Ende der Höhle, auf den dunklen Spalt.
Schon sanken die Flammen erneut in sich zusammen. Barnaba entdeckte einen kaum fingerdicken Ast, um den kleine Flammenzungen spielten. Er zog ihn aus dem Feuer und eilte zum Ende der Höhle. Schon drohte das unstete Licht zu vergehen.
Der Priester warf sich auf die Knie, zwängte sich in den Spalt und hielt den Ast vorgestreckt. Der Spalt setzte sich in die Tiefe des Berges fort. Barnaba hob die Fackel ein wenig höher und fuhr erschrocken zurück. Von oberhalb des Einstiegs starrten ihn zwei riesige Augen an!
Die winzigen Flammen zogen sich in die rote Glut zurück. Mit klopfendem Herzen starrte Barnaba auf den Felsspalt. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und kroch noch einmal zurück. »Hallo?«
Seine Stimme brach sich in der Felsspalte. Er erhielt keine Antwort.
Auch sein kümmerliches Lagerfeuer war zu dunkler Glut geworden und spendete kaum noch Licht.
»Ist da jemand?«, rief er.
Wieder antwortete nur ein Echo.
Bevor die Glut des Astes vollends verlosch, streckte Barnaba noch einmal seinen Arm in die Spalte und blickte zu den Augen hinauf. Sie waren nur gemalt. Er stieß einen langen Seufzer aus. Die Iris der Augen war von hellem, eindringlichem Grün. Wer immer das gezeichnet hatte, schien sich große Mühe gegeben zu haben, diese Farbe genau zu treffen. Barnaba hatte dieses Grün bei keiner der anderen Zeichnungen bemerkt.
»Was sind wir doch für ein Hasenfuß«, murmelte er halblaut. Was die Augen wohl bedeuteten? Er blickte zur Decke, wo er die Strichfiguren, die mit verkohlten Ästen gezeichnet worden waren, mehr erahnen als sehen konnte. »Wer wart ihr? Und wohin seid ihr gegangen? Hat euch etwas vertrieben?«