Für einen Augenblick ging ihr das Herz auf, meinte sie, ein Stück seiner alten Zuneigung zurückgewonnen zu haben. Dann aber siegte ihr Verstand. Sie glaubte ihm kein Wort. Keiner seiner Söhne hatte je dauerhaft seine Gunst besessen. Gnadenlos hatte er sie immer wieder gegeneinander ausgespielt. Nein, die Liebe für keines seiner vielen Kinder war von Dauer.
»Hast du den Handel mit Muwattas Gesandtem schon abgeschlossen?«
»Er wird dich bekommen, Shaya. Es ist sinnlos, noch weiter aufzubegehren.«
»Du wirst für mich auch tausend Pferde bekommen, wenn du darauf bestehst.«
Ihr Vater lachte auf. »Glaubst du nicht, dass du dich ein wenig überschätzt?«
»Entspräche das meiner Art? Sind nicht fünfhundert Pferde schon unangemessen viel für eine Prinzessin wie mich? Fordere tausend Pferde. Du wirst sie bekommen!«
»Warum solltest du so viel wert sein?«
»Weil es nicht um mich geht. Es geht um einen anderen mächtigen Mann, der gedemütigt werden soll, indem Muwatta mich vor den Augen Tausender auf der Spitze eines Tempels zu seinem Weib macht. Das wird Muwatta fast jeden Preis wert sein. Frage den Unsterblichen Aaron, wie viel ich ihm wert bin! Er würde dir fünftausend Pferde für mich geben! Ich füge mich in diesen Handel für mein Volk. Diene auch du unserem Volk und nimm so viel für mich, wie du bekommen kannst. Muwatta soll bluten, bevor mein Jungfernblut über den Altar fließt. Er wird jeden Preis zahlen, wenn du andeutest, es gebe noch einen anderen Bewerber.«
»Lieber halte ich die Grasmücke in der Hand, als von der Taube auf dem Dach meiner Jurte zu träumen. Ich kann es mir nicht leisten, Muwatta herauszufordern. Sein Heer können wir nicht besiegen.«
»Das wird Aaron für dich auf der Ebene von Kush tun.«
Madyas lachte laut auf. »Mit seinen Bauern? Du erstaunst mich. Ich hätte erwartet, dass du mehr vom Krieg verstehst.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Luwien herauszufordern wäre dumm. Ich werde keinen Boten zu Aaron schicken. Das ist mein letztes Wort.« Er starrte verkniffen vor sich hin.
Shaya wusste, dass es nichts nutzte, ihm jetzt noch zu widersprechen. Sie musste ihn mit seinen Zweifeln allein lassen. Nur dann durfte sie hoffen, dass er sich noch anders entschied. Bedrängte sie ihn hingegen, würde er sich allein schon aus Trotz gegen ihren Vorschlag entscheiden.
Nach langem Schweigen blickte ihr Vater zu ihr auf. »Glaubst du, Muwatta weiß, dass du keine Jungfrau mehr bist?« Ihr Vater sah aus, als wäre ihm nicht wohl bei der Sache. Seine Augen wirkten verkniffen. Seine Schultern waren herabgesackt, und plötzlich sah er wie der unendlich alte Mann aus, der er war.
»Um meine Jungfräulichkeit ist es nie gegangen«, entgegnete sie bitter. Diesmal schaffte sie es nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Ein paar namenlose Weizenkörner
»Da kann gar nichts passieren«, sagte Aleksan. Der Werber belächelte ihn. »Vertrau mir. Pferde scheuen vor Hindernissen. Ihr müsst einfach nur stehen bleiben, dann geht alles gut. Der Unsterbliche will, dass ihr seht, wie sicher so eine geschlossene Formation ist. In jeder Schenke, in der es Streit gibt, seid ihr in größerer Gefahr als hier. Haltet nur schön eure Schilde fest.«
Narek nickte. Aleksan musste es wissen. Er war schon drei Jahre ein Krieger und hatte sogar schon einmal in einer richtigen Schlacht gekämpft.
»Ich hoffe, du glaubst ihm kein Wort«, zischte ihm Ashot zu, der neben ihm stand. »Wenn das alles überhaupt nicht gefährlich ist, warum wurde dann ausgelost, wer in diesem Schildwall steht?«
Das Misstrauen seines Gefährten begann Narek zuzusetzen. Ashot witterte überall Intrigen und Verrat. »Sie haben gelost, damit es nicht nach einer abgesprochenen Sache aussieht. Sie wollen uns doch zeigen, dass jeder so einem Streitwagenangriff standhalten kann. Wenn du oben am Ufer stehen würdest und hier einfach eine Truppe Krieger aufmarschiert wäre, hättest du ihnen auch nicht geglaubt. Gib’s zu. Dann hättest du gesagt, die wollen uns für dumm verkaufen und hätten lauter Veteranen in den Schildwall gestellt.«
»Denk, was du willst. Ich würde jetzt auf jeden Fall lieber oben am Ufer stehen«, sagte Ashot, und dabei klang er für seine Verhältnisse geradezu kleinlaut.
Narek blickte zu den Ufern hinauf. Er hatte noch nie so viele Menschen gesehen. Sie drängten sich auf beiden Seiten des trockenen Flusses. Tausende. Dass es überhaupt so viele Männer gab, hätte er nicht gedacht. Sie kamen aus allen Provinzen des Reiches. Nur zweihundert von ihnen standen an diesem Morgen hier unten im Flussbett. Sie standen in vier Reihen, dicht hintereinander. In der vordersten Reihe waren ausschließlich Veteranen wie Aleksan. Narek war stolz, dazuzugehören, unter den Auserwählten zu sein, die ihren Mut beweisen konnten. Das wäre noch eine Geschichte für Daron! Er lächelte und hielt die lange Stange, die Aleksan ihm gegeben hatte, mit beiden Händen. Die Krieger der vordersten Reihe trugen mannshohe Schilde. Nareks Stange stellte einen langen Speer da. In einer richtigen Schlacht würden in der zweiten und dritten Reihe Speerträger stehen, die jeden niederstachen, der versuchte, die Schildträger anzugreifen. Und in der vierten Reihe gäbe es Bogenschützen, die ihre Pfeile steil in den Himmel schickten, um den Feind zu vernichten, noch bevor er überhaupt in den Nahkampf kam. Das war schlau ausgedacht, fand Narek. Wahrscheinlich würde er nie einem Luwier Auge in Auge gegenüberstehen. Er hatte ja die Schildträger vor sich, die mit spitzen Bronzeschwertern ausgerüstet waren, sollte es doch der eine oder andere Feind bis zu ihnen schaffen. Krieg war ein leichteres Geschäft, als er erwartet hatte.
Etwa zweihundert Schritt entfernt von ihnen standen sieben Streitwagen. Schöne Pferde waren vor die Wagen geschirrt. Die Wagenlenker hatten die Köpfe der Tiere mit Federn geschmückt. Polierte Bronzeamulette hingen vom Geschirr der Pferde. Bei zwei Wagen hatte man lange Klingen auf die Radnaben gesetzt. Es hieß, sie könnten ohne Mühe ein Bein durchtrennen, wenn der Wagen in voller Fahrt war. Gut, dass er hinter dem Schildwall stand, dachte Narek. Hier war er sicher.
Die Krieger stiegen auf die Streitwagen. Zwei von ihnen waren in merkwürdige Rüstungen gekleidet, die sie wie große Fässer aussehen ließen. Der Anführer des Streitwagengeschwaders war ein Krieger, dessen Haupthaar und Bart wie Gold in der Sonne strahlten. Er überragte alle ringsherum. Ein wahrer Hüne. Gut, dass es solche Krieger in ihren Reihen gab, dachte Narek. Der Kerl würde den Luwiern sicher gehörig Angst einjagen. Er sah zum Fürchten aus.
Der Goldkopf stieß einen Schrei aus, und alle sieben Streitwagen fuhren an.
»Setzt die Schilde auf!«, rief Aleksan, und die Krieger in der vordersten Reihe stießen ihre hohen Schilde auf den Boden, gingen in eine halb geduckte Haltung und lehnten sich mit der linken Schulter gegen die Schilde. »Speere ausrichten!«
Narek streckte gewissenhaft seinen langen Stock vor. Er spürte den Boden unter dem Hufschlag der Pferde erbeben. Ein Gefühl, das ihm geradewegs in den Magen stieg. Seine Hände waren schweißnass. Jetzt wäre er doch lieber oben auf dem Ufer. Er presste die Lippen zusammen.
Ashot murmelte leise Flüche. Auch er hielt seinen Holzstab vorgestreckt. Seine Hände zitterten nicht, stellte Narek erstaunt fest. Irgendwie schaffte sein Freund es, seine Angst besser im Zaum zu halten, als er es vermochte.
Die Streitwagen waren weniger als fünfzig Schritt entfernt. Staub und Steine spritzten unter den Pferdehufen auf. Ganz deutlich konnte Narek die Bronzeklingen an den Rädern sehen.
»Wann drehen diese verdammte Gäule endlich ab?«, fluchte Ashot.
»Ruhe im Glied«, rief Aleksan. »Haltet stand!«
Nur noch dreißig Schritt. Nareks Hände zitterten so sehr, dass die Spitze seines Holzstabs klappernd auf Aleksans Schildrand schlug.
Einer der Streitwagen hatte sich aus dem Pulk gelöst und preschte den anderen um zwei Längen voraus. Er wurde von zwei großen, weißen Pferden gezogen. Ihre Mähnen flatterten im Wind. Ein junger Krieger, um dessen Schultern ein Leopardenfell geschlungen war, trieb den Wagenlenker an, noch schneller zu fahren. Er hielt sich seitlich an einem Holzbügel fest, den Körper nach hinten gelehnt. Sein Fahrer stand tief gebeugt und ließ eine lange Peitsche über den Köpfen der Schimmel knallen. Die Augen der Pferde waren weit aufgerissen. Auch sie hatten Angst.