Nodon war überrascht, mit welch kühler Distanz Lyvianne sprach. Unter den Meistern der Weißen Halle war sie die rätselhafteste. Es hieß, dass ihre Kenntnis über die verschlungenen Pfade der Magie weit über das übliche Maß hinausreichte. Doch anders als bei Dylan schien sie das Studium dieser Kunst nicht verändert zu haben. Und falls doch, war es weniger offensichtlich als bei dem silberäugigen Elfen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Nodon Lyviannes Lager geteilt hatte. Dann war sie verschwunden … Ohne ein Wort hatte sie sich davongemacht. Er war über sie hinweg. Seit unendlich langer Zeit. Und sie war kälter denn je. Was auch seinen Reiz hatte …
Namen für Namen rief Lyvianne die Elfen der Weißen Halle auf und wies jedem einen Platz in dem großen, schwebenden Plan der Tiefen Stadt zu. Die Novizen sollten meist in kleinen Gruppen agieren. Die Meister und die Drachenelfen gingen allein.
Nodon sah zu Gonvalon. Der Schwertmeister hatte den Umhang eng um seine Schultern gezogen. Verfroren stand er etwas abseits der anderen, den Kopf leicht geneigt. Obwohl es Nodon schien, als lausche er nicht den Ausführungen Lyviannes, wirkte der Schwertmeister äußerst konzentriert. Ob der Goldene zu ihm sprach?
»Nun zu dir, Nodon.«
Der Elf blickte zu Lyvianne. Sie war noch schöner geworden mit den Jahren. Einmal noch hatte er ihr Avancen gemacht, nachdem sie für ein Jahr verschwunden gewesen war. Sie hatte ihn mit so harten, spöttischen Worten abgewiesen, dass er sie seither gemieden hatte.
»Du wirst diesen weiten Luftschacht nehmen, der dich hinab zum großen Hafen führt. Er endet etwa dreißig Schritt über den Anlegeplätzen. Das Wasser ist tief.«
Etwas in ihrem Tonfall beunruhigte Nodon. »Ich hoffe, die Weißen Schlangen wissen zwischen Elfen und Zwergen zu unterscheiden.«
»Wenn du nicht zu lange zögerst zu springen, wirst du vor ihnen den Hafen erreichen, Nodon.«
»Ich sorge mich nicht um mich«, entgegnete er spöttisch. »Es würde mich nur mit größtem Bedauern erfüllen, wenn ich einige unserer Verbündeten in dieser ruhmreichen Schlacht niederstrecken müsste, um mich ihrer blinden Fressgier zu erwehren.«
Die Himmelsschlangen hoben ihre Köpfe und blickten ihn an.
Still, Narr! Der Gedanke des Dunklen durchfuhr ihn wie ein Schwertstich.
»Du weißt nun, wo dein Platz ist, Nodon«, fuhr Lyvianne ungerührt fort. »Ich hoffe, du wirst uns nicht enttäuschen.« Damit wandte sie sich ab. »Nun zu dir, Gonvalon …«
Es ist Euch nicht bestimmt, in diesen Hafen zu springen. Und Ihr werdet auch nicht in die Tiefe Stadt gehen, um Zwerge niederzumachen. Ich habe Euren Widerwillen sehr wohl bemerkt. Deshalb sollt Ihr eine besondere Aufgabe erhalten. Ein Zwerg aus der Tiefen Stadt soll überleben. Und Ihr werdet für mich ausziehen, ihn zu holen, bevor Feuer und Schwert die Festhallen des kleinen Volkes in Leichenhallen verwandeln werden. Ihr werdet nun Folgendes tun …
Der verblassende Stein
Nodon hatte es hinausgezögert. Fast alle waren schon gegangen. Er hatte ein paar Worte mit Gonvalon gewechselt, obwohl er den Kerl nicht ausstehen konnte. Nannte sich Schwertmeister, aber was brachte er seinen Schülerinnen bei? Zu sterben! Sie alle verreckten auf ihrer ersten Mission. Wenn sie nur ihm Nandalee überlassen hätten … Aus dieser rebellischen Elfe aus Carandamon könnte einmal etwas werden. Sie hatte Talent, auch wenn sie immer davon faselte, eigentlich eine Bogenschützin zu sein. Sie hatte gute Reflexe. Intuition. Sie ahnte, was der Gegner tun würde. Das konnte man nicht lernen. Wenn er ihr Meister wäre, hätte sie eine große Zukunft vor sich. Er sollte sich keine Gedanken über Nandalee machen, dachte Nodon ärgerlich. Sie war Gonvalons Schülerin. Was bedeutete, dass sie jetzt schon totes Fleisch war.
Der leuchtende Plan des Tunnelsystems war verschwunden. An den Rändern der magischen Kuppel, die den Krater vor dem Sturmwind schützte, lag der Schnee schon mehr als hüfthoch. Nodon starrte in den Himmel hinauf. Es war hell, aber man konnte keine Sonne sehen. Nicht einmal Wolken. Es herrschte dichtes Schneetreiben. Wo sie wohl waren?
»Pass auf dich auf!« Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Ailyn. Sie trug ihr dunkles Haar offen. Ailyn reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Sie war eine Meisterin im waffenlosen Kampf. So klein und zerbrechlich sie auch aussehen mochte, mit ihr Streit anzufangen war gefährlich. Ihr Gesicht war hart. Es gab nur gerade Linien und Winkel. Keine einzige Rundung. Ihr etwas zu langer Hals war hinter dem silberdurchwirkten Stehkragen ihres langen, geschlitzten Kleides verborgen.
»Im Hafen wird es gefährlich sein«, sagte sie und sah ihn auf eine Art an, als wolle sie sich auf immer verabschieden. Glaubte sie etwa, dass er sich nicht gegen ein paar Zwerge wehren konnte?
»Der Armbrustbolzen, der mich töten würde, ist noch nicht gefertigt«, antwortete er mürrisch und dachte zugleich: Was für einen Schwachsinn erzähle ich denn da!
Sie lächelte spöttisch. »Wenn du es sagst …«
»Ich habe keine Angst.«
»Nicht? Mich hält die Angst am Leben, wenn ich kämpfen muss. Sie schärft meinen Verstand. Auch wenn ich äußerlich ganz ruhig wirke – ich bin es nicht. Als wir Nandalee zur Weißen Halle geholt haben, wurde mein Pegasus getötet. Ich bin ganz allein unter einem Rudel von Trollen zurückgeblieben. Ich dachte, sie würden mich bei lebendigem Leib fressen. Du kennst wohl diese Geschichten … Sie haben mich tagelang durch den Schnee gehetzt …«
Nodon war überrascht von ihrer Offenheit. Ailyn galt sonst als still. »Diesmal sind es nur Zwerge«, sagte er, mehr aus Verlegenheit denn Überzeugung.
»Ja.« Sie blickte auf den zerwühlten Schnee.
Jetzt. Du musst vor ihr über den Drachenpfad gehen. Die Worte des Dunklen peitschten unerwartet in seine Gedanken. Nodon wandte sich abrupt von Ailyn ab. »Wir sehen uns in der Tiefen Stadt«, sagte er statt eines Abschieds. Dann schritt er durch die mattschwarze Fläche am Rand der Kuppel.
Unsichtbare Hände zerrten an ihm. Er fühlte sich emporgehoben. Dann war er umgeben von gleißendem Licht. Er kauerte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, in die Knie gegangen zu sein. »Verfluchte Drachenpfade!« Er kniff die Augen zusammen. Es war heiß. Seine Hände tasteten über etwas Weiches … Sand? Vorsichtig blinzelnd sah er sich um. Da war eine schattenhafte Gestalt. Ein Elf?
Ich bin es. Wir haben nur einen Augenblick. Meine Nestbrüder dürfen nicht bemerken, dass ich den Pfad verlassen habe. Ich entbinde Euch von dem Befehl, den Ihr gerade erhalten habt, Nodon. Ihr werdet nicht durch einen Luftschacht in den Hafen der Tiefen Stadt springen. Ihr werdet jetzt schon in die Zwergenstadt gehen.
»Warum?« Der Elf blinzelte gegen das blendend helle Sonnenlicht an.
Fragt nicht! Ihr werdet einen Zwerg von dort fortholen.
Ein Bild erschien in Nodons Gedanken. Eine gedrungene, bärtige Gestalt mit wulstiger Nase und buschigen Augenbrauen.
Ihr werdet in einem unbedeutenden Seitentunnel aus dem Drachenpfad treten. Euch bleiben nicht einmal mehr dreiundzwanzig Stunden, um ihn zu finden und über den Drachenpfad aus der Stadt zu bringen. Er ist wichtig für die Zukunft Albenmarks.
Nie hatte er die Stimme des Erstgeschlüpften so intensiv empfunden. Sie war heiß und kalt zugleich. Voller Gefühl.
»Wo werde ich den Zwerg finden?«
Findet die Zwergendame Amalaswintha, dann findet Ihr auch ihn.
»Aber wie soll ich denn …«
Es bleibt keine Zeit für Erklärungen. Ihr werdet alles neben Euch im Sand finden.