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Zehn Schritt vor Kanitas Thronsitz hielten die Sänftenträger inne. Die Krieger, die ihr folgten, verharrten. Wieder herrschte bedrückende Stille. Durchbrochen vom gelegentlichen Keuchen jener, die noch um ruhigen Atem rangen.

Shaya wurde die Kehle trocken. Wer war in der Sänfte? Wer genoss es so sehr, das Geheimnis um seinen Auftritt hinauszuzögern?

Eine Bö ließ das Pferdekopfbanner hinter Kanitas Pavillon knattern.

Endlich teilte sich der Vorhang. Ein Mann in fließendem, rotem Seidengewand stieg aus. Alle senkten den Kopf. Shaya tat es ihnen gleich. Sie sah die breite, mit Perlen geschmückte Borte am Saum des Gewandes. Sah weiche Stiefel aus purpurn gefärbtem Leder.

Die Prinzessin hob den Blick. Mit einer kurzen Verneigung war der Höflichkeit Genüge getan. Sie war die siebenunddreißigste Tochter des Unsterblichen Madyas. Sie musste sich vor niemandem verbeugen.

Der Würdenträger, der der Sänfte entstiegen war, war ein hagerer Mann. Sein Gesicht eingefallen. Ein langer, schwarzer Schnurrbart wucherte über seiner fleischigen Oberlippe. Die Enden hingen ihm fast bis zum Kinn herab. Die dunklen Augen des Gesandten waren von schwarzer Schminke eingefasst. Wie Wolfshöhlen sahen sie aus. Shaya kannte diesen Blick. Kannte den Mann. Er sah zu ihr herüber, nicht zum Statthalter Kanitas. Und da wusste sie, er war ihretwegen gekommen, ganz gleich, was geschehen würde. Es war Subai, ihr älterer Bruder. Der Bruder, der seinen Hund einst darauf abgerichtet hatte, die Puppen der Prinzessinnen zu zerfetzen. Den Hund, der eines Tages sie gepackt hatte, als sie so dumm gewesen war, vor ihm fortzulaufen. Die Narben, die sie an jenem Tag davongetragen hatte, hatten sie dazu bewogen, den Weg als Kriegerin zu wählen. Als einzige der Töchter des Unsterblichen Madyas. Und trotz all der Kämpfe, die sie seitdem bestanden hatte, verspürte sie immer noch den Drang davonzulaufen, wenn sie einen Hund sah. Subai hatte ihr nie verziehen, dass sein bösartiger Köter geschlachtet worden war.

Shaya hielt dem Blick ihres Bruders stand. Sie dachte an die sieben Schalen, die sie von jener Suppe gegessen hatte, in der sein Hund gekocht worden war. Und er hatte ihr dabei zusehen müssen.

Er bedachte sie mit einem unheilvollen Lächeln. Eine weiße Narbe prangte auf seiner linken Wange. Subai hatte am Seidenfluss gekämpft und einen der aufsässigen Stadtstaaten dort unterworfen. Immer wieder glaubten die Menschen am Großen Fluss, sie könnten das Joch der Herrschaft der Ischkuzaia abwerfen. Immer wieder wurden sie dafür bestraft. Hände, die Seidenstoffe woben, waren nicht dazu geschaffen, die Dornaxt zu führen. Natürlich hatte Subai am Ende triumphiert. Aber sein Triumph hatte einen schalen Beigeschmack bekommen, als bekannt geworden war, wie viele seiner Krieger gefallen waren. Die Narbe auf der Wange hatte ihr eigener Vater ihm beigebracht. Er hatte ihm mit einer Peitsche ins Gesicht geschlagen, als Subai zurückgekehrt war, um in der Wandernden Stadt von seinem Sieg zu berichten. Shaya wäre gern dabei gewesen. Seitdem war sein Ruf als Krieger dahin. So trug er heute auch keine Rüstung. In seinem schlichten Ledergürtel steckten lediglich eine Dornaxt und ein Dolch. Symbole seiner Mannhaftigkeit.

»Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, schickt mich, weil er von deinen Taten hörte, Statthalter Kanita«, verkündete Subai mit volltönender Stimme, die bis in den letzten Winkel des weiten Hofes drang.

Shaya stutzte. Nur selten wurde ihr Vater mit all seinen Titeln genannt. Früher hatte er wenig Wert darauf gelegt. Wie es schien, hatten sich die Gepflogenheiten am Wandernden Hof gewandelt. Auch das verhieß nichts Gutes.

Kanita blieb vor Subai sitzen. Der Statthalter war alt, aber keineswegs gebrechlich. Er hätte aufstehen und ihren Bruder damit als gleichrangig oder höhergestellt anerkennen können. Stattdessen blickte er mit verbissenem Lächeln zu ihm auf. »Es erfreut mein altes Herz, dass Kunde von mir bis in das Zelt meines geliebten Königs gelangte. Und ich hoffe in aller Bescheidenheit, dass die Eilfertigkeit des geschätzten Boten nicht auch seiner Zunge Flügel verlieh.«

Shaya war überrascht. Anzudeuten, dass womöglich Lügen an das Ohr des Großkönigs getragen worden waren, war mehr als kühn.

Subai überging die Andeutungen des Statthalters. »Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, hat mich beauftragt, dir eine persönliche Nachricht zu überbringen.« Er griff in den weiten Ärmel seines Seidengewandes, zog eine Knochentafel hervor, hielt sie Kanita hin und ließ sie dann fallen, wobei er sich nicht die geringste Mühe gab, es wie ein Missgeschick aussehen zu lassen.

Kanita stieß ein leises, keckerndes Lachen aus. Auch Shaya musste schmunzeln. Ihr Bruder demütigte den Alten keineswegs mit dieser Geste. Ganz im Gegenteil, er machte sich lächerlich.

Der Statthalter beugte sich vor und griff nach der Knochentafel. Im selben Augenblick zog Subai die Dornaxt aus seinem Gürtel. Bevor Kanitas Leibwächter auch nur an ihre Schwerter greifen konnten, sauste die Axt nieder. Mit einem scharfen, knackenden Geräusch durchdrang sie den Hinterkopf des Statthalters. Kanita sackte zu Boden.

»Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, wünschte Kanitas Tod. So steht es auf der Tafel.«

Shaya zog ihre eigene Dornaxt. »Tritt zurück!«, fuhr sie ihren Bruder an. Sie wollte die Knochentafel sehen. Kanita hatte dem Großkönig lange treu gedient.

»Durch Kanitas Taten hat der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, sein Gesicht verloren.« Subai sah sich herausfordernd um. »Er hat unsere stolzesten Krieger der Lächerlichkeit preisgegeben. Hat euch Aaron, dem Großkönig von Aram, unterstellt, damit ihr mit ihm die Bitternis der Niederlage kennenlernt. Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, war entsetzt, als er hörte, was hier geschehen ist. Und all dies tat der anmaßende Alte, ohne Nachricht an den Wandernden Hof zu schicken. Ich bin hier, um unsere Ehre wiederherzustellen. Jeder, der sich dem Gebot des Aaron von Aram unterstellt hat, wird Nangog verlassen.« Er sah sie mit gehässigem Lächeln an. »Auch meine Schwester ist abberufen. Und nun zeigt mir, dass es an diesem Hof zumindest noch eine Handvoll Krieger gibt, die nicht vergessen haben, wem sie Treue schulden. Ergreift meine Schwester! Nehmt ihr die Waffen ab, bevor meine Krieger es tun.«

Shaya wurde gepackt. Sie leistete keinen Widerstand. Stolz hielt sie den Kopf aufrecht, als man ihr in die Kniekehlen schlug, um sie vor ihrem Bruder in den Staub zu zerren. Ihr Helm fiel zu Boden. Der Waffengürtel wurde ihr von der Hüfte gerissen. So viele Monde hatte sie die Leibwache Kanitas befehligt. All dies zählte nichts mehr. Ohne zu zögern hatten ihre Krieger sich gegen sie gewendet. Das schmerzte mehr als der Schlag in die Kniekehlen.

»Grüßt den neuen Statthalter!«, rief ausgerechnet Kanitas Schildträger.

Speere wurden vor Schilde geschlagen. Hunderte Krieger riefen Subais Namen.

Ihr Bruder nahm die Huldigung entgegen, ohne eine Regung zu zeigen. Dabei musterte er die Krieger ringsherum. Das Lärmen nahm kein Ende. Erste Stimmen klangen heiser. Shaya hatte das Gefühl, dass niemand es wagte, als Erster mit der Lobpreisung des neuen Statthalters aufzuhören.

Nach einer Ewigkeit beugte sich Subai zu ihr herab. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dir dabei zusehen musste, wie du meinen Lieblingshund gefressen hast? Damals habe ich mir gewünscht, dich eines Tages zu töten. Aber der Weiße Wolf hat mir ein gnädigeres Schicksal zugedacht. Ich werde zugegen sein, wenn dein Stolz gebrochen wird. Und ich kann dir versprechen, du wirst dir wünschen, dich hätte ein ebenso schnelles Ende ereilt wie den Statthalter Kanita. Ihm war der Weiße Wolf gewogen.«

Verwandlung

Nachtatem ruhte am Fuß einer Klippe, das Haupt auf seine verschränkten Vorderläufe gebettet. Der große, schwarze Drache verschwamm fast vollständig mit den Schatten. Es war erst später Nachmittag, aber hier bei der Klippe schien es Nacht zu sein. Das Licht mied den riesigen Drachen. Es floh vor der Klippe.