Nandalee fühlte sich unwohl. Der Mord am Schwebenden Meister hatte den Erstgeschlüpften verändert. Kalter Zorn spiegelte sich in seinen Augen. Sie hatte ihm von den Patrouillen erzählt und von den Fallen.
Ihr seid Euch sicher, dass sie von dort gekommen sind, Dame Nandalee? Oder nehmt Ihr es an, weil die Tiefe Stadt die einzige Zwergensiedlung ist, die Ihr kennt?
Die Worte brannten sich in ihren Kopf, und sein spöttischer Unterton verletzte sie. »Nein, ich bin mir nicht sicher.« Sie konnte dem Blick des Drachen nicht länger standhalten. Ein Druck lastete auf ihrer Brust, als läge dort ein Felsklotz.
Aber vor drei Tagen wart Ihr Euch noch sicher, werte Dame.
Sie wollte aufbegehren. Sie hatte nie gesagt, dass sie sich sicher war! Sie hatte ihre Worte sehr vorsichtig gewählt, als sie von den Himmelsschlangen neben dem Kadaver des Schwebenden Meisters befragt worden war. Sie dachte an den ausgeweideten Leichnam ihres Lehrers. Kein Aasfresser hatte sich an den toten Drachen herangewagt. Nicht einmal Fliegen hatten ihre Eier in das zerschundene Fleisch gelegt. Alles, was lebte, fürchtete die großen Drachen.
Mit Schrecken dachte Nandalee an die Befragung zurück. An all die ungezügelten Emotionen der Drachen. Äußerlich hatten sie ruhig gewirkt, aber ihre Gedanken waren voller Hass und Trauer gewesen. All dies hatte sie überdeutlich spüren müssen. Es war ein Gefühl gewesen, als flösse zerriebenes Glas durch ihre Adern … Mehr als nur ein Gefühl. Zuletzt hatte sie aus den Augen zu bluten begonnen. Nachtatem hatte daraufhin die Befragung abgebrochen.
Die Zwerge hatten nach ihrem Drachenmord großen Wert darauf gelegt, ihre Spuren zu verwischen. Und der Schwebende Meister hatte ihnen dabei noch geholfen. Der Windbruch, die gestürzten Bäume, unter denen die Zwerge auf der Lauer gelegen hatten, war niedergebrannt. Fast nichts war zurückgeblieben, was Aufschluss darüber geben konnte, aus welcher Siedlung die Mörder gekommen waren. Sie hatten ihre Beute, Teile des Kadavers des weißen Drachens, in eine nahe Höhle gebracht, in die ein unterirdischer Fluss mündete. Von dort mussten sie in diesen Tauchfässern, die sie Aale nannten, geflüchtet sein. Dieser Spur konnten nicht einmal die Himmelsschlangen folgen. Und deshalb hatte Nachtatem sie geholt.
Es hatte ihr anfangs geschmeichelt, dass der Erstgeschlüpfte glaubte, sie könne etwas entdecken, was ihm, bei all seiner Machtvollkommenheit, entgangen war. Vielleicht lag sein Vertrauen in ihre Fähigkeiten daran, dass sie in jenem unzugänglichen Tal, in dem sie nach einer der Alben gesucht hatten, den Stein mit dem Blutstropfen gefunden hatte.
Ihr Stolz war bald der Verzweiflung gewichen. Fast einen ganzen Tag hatte sie gesucht. Es gab etliche Spuren, aber nichts hatte Auskunft über die Herkunft der Zwerge gegeben. Zuletzt war Nandalee unter den verkohlten Baumstämmen herumgekrochen und hatte die Überreste der Maschine untersucht, die den Speer geschleudert hatte, der dem Schwebenden Meister zum Verhängnis geworden war. Dort hatte es nur ausgeglühte Eisenbeschläge und den verzogenen Stahlbogen gegeben. Und verschiedene halb verkohlte Kisten. In einer von ihnen hatte sie einen merkwürdigen, weißen Klumpen gefunden, kaum halb so lang wie ihr Daumen. Eine weiche Masse, die einen üblen Geruch verströmte. Ein Duft, den man nicht mehr vergaß, wenn man ihn schon einmal gerochen hatte. Koboldkäse!
Hat es Euch die Sprache verschlagen, Dame Nandalee?
Nandalee zuckte zurück. Es war ein Gedanke wie ein Peitschenhieb. Sie wünschte sich, Nachtatem würde normal mit ihr sprechen und nicht seine Gedanken in ihren Kopf brennen. Das war so viel intensiver, als Worte es je hätten sein können.
»Ich dachte an den unfreundlichen Zwergenschmied, in dessen Höhle wir bei unserem Besuch in der Tiefen Stadt gewesen sind. Dort gab es solchen Käse. Ein Beweis ist das freilich nicht. Ich weiß schließlich nicht, wie üblich es unter Zwergen ist, diese stinkende Sauerei zu essen.«
Seid Ihr Euch darüber im Klaren, welche Folgen es haben wird, dass Ihr Euren Verdacht vor meinen Nestbrüdern ausgesprochen habt?
Diesmal empfand Nandalee weniger Schmerzen, als die Gedanken ihres Meisters sie durchströmten. Eine Traurigkeit ergriff sie, die sie mit stummer Verzweiflung erfüllte. Es war ein Gefühl, als müsse sie allein eine riesige Welle aufhalten, die sich am Horizont auftürmte. Ein Unterfangen, das schier unmöglich war. Und doch war es ihre Pflicht, es zumindest zu versuchen.
Sie wollen Rache für den Tod des Schwebenden Meisters. Ich aber will zunächst einmal Gewissheit. Wir sind keine Rächer; wir haben uns den Alben gegenüber verpflichtet, Gerechtigkeit zu üben. Wenn wir strafen, müssen wir uns ganz sicher sein. Wir sind die Hüter ihrer Kinder, und wenn es notwendig ist, dann strafen wir, aber wir sind keine Tyrannen, deren Gnade reine Willkür ist. Alle Kinder der Alben müssen dies tief in ihren Herzen wissen, sonst sind wir an unserer Aufgabe gescheitert.
Nandalee nickte, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die meisten der Albenkinder hatten Angst vor den Himmelsschlangen. Konnte es wirklich sein, dass Nachtatem dies nicht bewusst war?
Ihr werdet für mich in die Tiefe Stadt gehen, Dame Nandalee. Ihr wisst, wo Ihr jenen frechen Schmied suchen müsst. Findet heraus, ob er der Mörder des Schwebenden Meisters ist und wer ihm geholfen hat. Wer bei ihm war und die Maschine bedient hat, die ersonnen wurde, um uns Drachen zu töten. Bringt mir ihre Namen, Dame Nandalee, und ich werde entscheiden, auf welche Weise die Mörder gerichtet werden.
Sie wollte gerade einwenden, dass sie wohl kaum einfach in eine Zwergenstadt marschieren könne, als Nachtatem sie mit einer Klaue an der Stirn berührte. Es war eine vorsichtige, zärtliche Geste, der ein Orkan von Schmerzen folgte. Nandalee brach in die Knie und kippte zur Seite. Krämpfe schüttelten sie. Ihre Glieder zuckten unkontrolliert, und sie vermochte kaum mehr zu atmen. Ihr Blick trübte sich. Blut rann aus ihrer Nase und benetzte ihre Lippen.
Als sich die Krämpfe legten, hob sie einen Arm und blickte verzweifelt auf ihre Finger. Dick und unförmig waren sie und von Schwielen bedeckt. Nandalee war wieder im Körper eines Zwergs gefangen.
Ihr verfügt über alle Erinnerungen eines Zwergenschmiedes aus den Ehernen Hallen. Ihr sprecht mit dem Dialekt dieser Stadt, werte Dame. So könnt Ihr Euch unauffällig unter den Zwergen der Tiefen Stadt bewegen. Um zu vermeiden, dass Ihr wiedererkannt werdet, entspricht Euer Äußeres nicht dem, das ich Euch beim letzten Besuch der Tiefen Stadt geschenkt hatte. Passende Gewänder für Euch liegen bereit, Dame Nandalee. Ihr werdet feststellen, dass Ihr Euch erinnert, wie man sie anlegt, auch wenn es nicht Eure Erinnerungen sind. Euer Bart ist bereits nach der Mode der Ehernen geflochten und mit Eisenringen geschmückt. Auch habe ich mir erlaubt, den Albenstern zu öffnen. Der Weg zwischen den Welten wird Euch direkt zum Albenstern in der Tiefen Stadt führen. Bitte verzeiht meine unhöfliche Hast, doch meine Nestbrüder erwarten mich. Die Zeit drängt! Ich muss eilen, um zu versuchen, ihren Zorn zu mildern und um sie von einem unbedachten Vorgehen abzuhalten.
Nachtatem weitete seine Schwingen und glitt aus dem Schatten der Klippe. Einen Moment lang verdunkelte seine Gestalt die Sonne, und alles rings um Nandalee versank in unnatürlicher Finsternis. Dann erhob er sich mit machtvollen Flügelschlägen in den Himmel.
Neben dem stechenden Schmerz, der seine Gedanken begleitet hatte, hatte sie auch seine Sorge gespürt. Etwas ging unter den Himmelsschlangen vor sich. Er war sich nicht mehr sicher, dass seine Nestbrüder seinem Rat folgen würden, und fürchtete, was geschehen mochte, wenn es so weit kam.
Nandalee legte die Zwergenkleider an. Der Stoff war aus dicker Wolle, die auf der Haut kratzte. Eine weite Hose und eine sackartige Tunika. Dazu klobige Stiefel. Nachtatem hatte an alles gedacht. Die Kleider sahen nicht nur getragen aus, sie rochen auch so. Nandalee schluckte, band sich aber die schwere Lederschürze um und drapierte ihren Bart darüber. Einen Moment lang betrachtete sie die Eisenringe, die in die Zöpfe ihres Bartes eingeflochten waren. Verschlungene Muster wanden sich darum, zeigten Schlangen und unnatürlich langgestreckte Wölfe, die mit ihnen kämpften. Sie erinnerte sich an die verborgene Bedeutung. Die Schlangen standen für die Drachen, die Wölfe für Zwerge. Sie war Zeugin der letzten Augenblicke im Leben jenes Zwergs, dessen Wissen und Erinnerungen sie geerbt hatte. Nachtatem hatte ihn nicht getötet. Aber er hatte ihm alles genommen, was sein Leben ausmachte. Seine Sprache und sein Gedächtnis. Wie ein leeres Gefäß war er zurückgeblieben. Das war die Rache dafür gewesen, sich heimlich gegen die Drachen verschworen zu haben. Nandalee dachte an all die schönen Worte Nachtatems. Sie fand die Strafe, die den Zwerg allein dafür ereilte, dass er an Verschwörung gedacht hatte, unangemessen hart, und sie entschied sich, sich Arbinumja zu nennen, was in der Sprache der Zwerge so viel wie Erbe hieß.