Amalaswintha
Der rotbärtige Zwerg betrachtete Nandalee misstrauisch. »Ich habe noch nie einen Zwergen getroffen, der die Sprache der Elfen beherrschte.«
Sie versuchte ein Lächeln. »Ich gebe zu, dass das selbst in der Ehernen Halle selten ist. Mein Vater hat an Elfen Eisen verkauft. Er hat mich oft auf seine Reisen mitgenommen, als ich noch jung war. Dabei habe ich ein wenig die Sprache gelernt. Ihre Flüche, das war das Erste, was wir zu hören bekommen haben, wenn er ihnen seine Preise genannt hat. Du weißt ja, Kinderohren sind offen für alles, was sie nicht hören sollten. Außer ein paar Flüchen habe ich auch nicht viel von der Sprache der Täuscher behalten.«
Der Ratsherr spielte nachdenklich mit der Spitze seines Bartes. »Er hat dich als Kind auf Reisen zu den Elfen mitgenommen? Was für einen Vater hattest du!«
»Einen klugen. Er hat sich darauf verlassen, dass sie einem Mann, der mit einem Kind die Wildnis bereist, nichts tun werden. Hätten sie ihn umgebracht, hätten sie sich um mich kümmern müssen. Und welcher Elf möchte sich schon mit einem Zwergenbalg abgeben?«
Der Ratsherr nickte langsam. »Ich verstehe. Ungewöhnlich. Eine Geschichte wie deine habe ich noch nicht gehört. Aber einleuchtend …« Er strich sich wieder über den Bart. »Und hat dein Vater gute Geschäfte mit den Elfen gemacht?«
»Wie man es nimmt. Als ich größer wurde, hat er mich nicht mehr mitgenommen. Vor drei Jahren kam er nicht mehr zurück. Wir haben nie erfahren, was aus ihm geworden ist.«
»Mein Beileid«, grummelte der Zwerg in seinen Bart, während seine großen, grauen Augen sie noch immer aufmerksam musterten. »Und was machst du hier, nahe der Kammer der kommenden Offenbarungen? Vermagst du die Tore der Albensterne zu öffnen?«
Nandalee schnaubte. »Ich wünschte, ich könnte es. Ich sah hier ein helles Licht und hoffte, ich könnte einem Torgänger begegnen. Ich schätze es nicht, in Aalen zu reisen. Und über Land mag ich mich auch nicht bewegen …« Sie blickte zu Boden.
»Wegen der Drachen? Du bist wegen der Versteigerung hier, wie all die anderen, nicht wahr?«
Nandalee nickte, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was er meinte.
»Eines Tages werden wir keine Drachen mehr fürchten müssen.« Er lächelte breit. »Und auch keine Elfen. Du musst unbedingt jemanden kennenlernen. Deine Kenntnis der Sprache der Elfen ist in diesen Zeiten gutes Gold wert. Selbst wenn du nur einige Flüche beherrschst und was sich Kinder sonst noch so merken. Du wirst sehen, wir werden Albenmark verändern.«
Nandalee nickte zögerlich. »Ich heiße übrigens Arbinumja.«
»Skorri«, entgegnete der Ratsherr. »Komm, ich bringe dich jetzt an den interessantesten Ort unserer Stadt. Hoffentlich hat deine Sippe dich gut mit Schuldbriefen ausgestattet, sonst wird dir bald das Herz bluten.«
Wieder verstand Nandalee nicht, was er meinte. Sie schlug einen leichten Plauderton an und unterhielt Skorri mit erfundenen Geschichten über den Eisenhandel ihres Vaters, während der Ratsherr sie in einen Abschnitt der Tiefen Stadt führte, den sie bislang noch nicht betreten hatte.
Nach einer Weile wurden die Tunnel belebter. Fast alle Zwerge, denen sie begegneten, gingen in dieselbe Richtung wie sie. Die Gänge waren erfüllt von aufgeregtem Gemurmel. Der Geruch nach Fett und Rauch wurde immer intensiver, ebenso der Gestank nach altem Schweiß, der den meisten Zwergen anhaftete.
Sie durchquerten eine weite Halle, in der Stalaktiten und Stalagmiten miteinander zu baumdicken Säulen verschmolzen. Nandalee sah sich neugierig um. Die Größe der Höhle beeindruckte sie. An den Wänden entlang verliefen Terrassen und schmale Treppen. Überall wimmelte es von Zwergen. Es mussten Hunderte sein.
Skorri führte sie durch ein hohes Bronzetor und über eine weite Treppenflucht in die nächste Halle. Die Wände hier schienen mit lilafarbenen Lichtblitzen überzogen zu sein. Sie musste blinzelnd den Blick abwenden, so hell war es.
Skorri schob sie in das Gedränge, während er immer wieder Bekannten zunickte oder mit knappen Späßen auf freundschaftliche Zurufe reagierte. Er war ohne Zweifel ein angesehener Mann. Aber was hatte er mit ihr vor? Nandalee gefiel es gar nicht, an seiner Seite so sehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt zu werden.
Eine dunkle, warme Stimme übertönte das Murmeln und Husten Hunderter Zwerge. »Nun, nachdem wir Galar und Nyr für ihre Tapferkeit geehrt haben, kommen wir zum eigentlichen Helden, jenem unerschrockenen Zwerg, dessen Visionen und unermüdlicher Ausdauer der Triumph über den Weißen Drachen in erster Linie zu verdanken ist. Es ist jener Zwerg, dessen Name schon jetzt Legende ist: Hornbori Drachentöter. Ich sage euch, meine Freunde, eines Tages werdet ihr eure Enkel auf dem Schoß sitzen haben und ihnen ehrfürchtig erzählen: Ich habe einst Hornbori gekannt, der die Drachen lehrte, was es heißt, das Volk der Zwerge unterdrücken zu wollen. Nun begrüßt ihn, wie es sich für einen Helden gehört!«
»Es ist der Alte in der Tiefe, der dort spricht, der Fürst der Tiefen Stadt«, raunte ihr Skorri zu. »Und der, der dort auf die Empore steigt, wird vielleicht eines Tages sein Nachfolger sein.« Nandalee meinte bei den letzten Worten einen Hauch von Unmut mitschwingen zu hören.
Den Redner auf der Empore hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sein langer, weißer Bart reichte dem Alten aus der Tiefe bis fast zu den Knien. Sein ganzes Gesicht schien ein struppiges, weißes Haarknäuel zu sein, aus dem lediglich eine unförmige, rote Nase hervorragte. Der alte Zwerg stützte sich auf einen knotigen Eichenstab. Soweit Nandalee erkennen konnte, trug er keinen Schmuck und keine Würdenzeichen. Für sein offenkundig hohes Alter hatte er eine erstaunlich kräftige Stimme. Nun trat ein jüngerer Zwerg neben ihn auf die Empore. Jubel und Fußgetrampel erfüllten die weite Halle.
Immer mehr Zwerge drängten von hinten nach. Nandalee wurde weiter nach vorne geschoben und war bald so zwischen bärtigen Leibern eingekeilt, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu können.
»Bitte, meine Freunde …« Der jüngere Zwerg versuchte die begeisterte Menge mit ausgestreckten Armen zu beruhigen. Sein Bart war dicht und schimmerte ölig. Kein einziges graues Haar war darin zu entdecken. Er trug einen prächtigen Helm, von dessen Seiten goldene Schwingen abstanden. Nandalee war sich sicher, dem Kerl schon einmal in der Werkstatt des verrückten Schmiedes begegnet zu sein.
»Bitte … Ich habe doch nur getan, was auch ein jeder von euch getan hätte. Wir alle sind unter dem Schatten der Drachenschwingen aufgewachsen. Wir alle wissen um ihre Willkür. Hättet ihr dem Weißen Drachen gegenübergestanden, keiner von euch hätte weniger Mut bewiesen als Nyr, Galar und ich. Jeder von euch hat das Herz eines Helden!«
Tosender Beifall ließ die Höhle erbeben.
Nandalee kämpfte gegen aufsteigende Panik an. Sie hasste es, tief unter den Felsen zu sein. Und nie zuvor in ihrem Leben war sie so eingekeilt gewesen wie in dieser grölenden Zwergenmenge. Es war ein Albtraum.
»Reden kann er …« Obwohl Skorri unmittelbar neben ihr stand, musste er schreien, damit sie ihn verstehen konnte.
»Die Schlacht gegen die Drachen hat gerade erst begonnen. Die Waffe, die den Weißen getötet hat, wurde im Kampf zerstört. Und wir brauchen viele neue Speerschleudern, wenn wir gegen die tobende Wut der Drachen bestehen wollen. Deshalb bitte ich euch: Spendet! Gebt, was ihr entbehren könnt, und beschreitet mit mir den dornigen Weg zur Freiheit. Vor uns liegt eine Schlacht, wie unser Volk sie noch nie schlagen musste. Ich sehe einen Weg von Blut, Schweiß und Tränen. Doch wenn wir ihn bis zum Ende gegangen sind, werden unsere Kinder und Kindeskinder dereinst aus ihren Höhlen treten und ohne Angst in den Himmel Albenmarks blicken können.«
Neuer Jubel brandete auf. Nandalee spürte darin die Begeisterung für einen gerechten Kampf, und sie fragte sich, was die Drachen den Zwergen alles angetan haben mochten. Dieser Hornbori verstand es erschreckend gut, den tief verwurzelten Zorn seines Volkes noch weiter anzufachen.
»Viele unserer Weisen sind der Überzeugung, dass der Leib der Drachen von Magie durchdrungen ist. Wer ihr Blut recht zu nutzen weiß, mag diese Zauberkraft in Waffen fließen lassen. Aus ihren Schuppen kann man wundertätige Amulette fertigen. Doch womit wir die heutige Versteigerung eröffnen wollen, ist etwas Einzigartiges.« Er machte eine dramatische Pause und lächelte. »Jeder, der es sieht, wird sofort erkennen, welche Magie diesem besonderen Körperteil innewohnt. Bietet freimütig, meine Freunde, denn es mag eine ganze Generation von uns dahinscheiden, bevor ein zweites Mal ein so außergewöhnliches Stück zum Verkauf angeboten wird.«