Die wunderbaren Reisen und Abenteuer
zu Wasser und zu Lande
des Freiherrn von
Münchhausen
Vorwort
Eines steht fest, und daran ist nicht zu wackeln: Der Baron von Münchhausen, der in diesem Buch einige seiner Abenteuer erzählt, hat wirklich und richtig gelebt, und zwar vor etwa zweihundert Jahren. Er kam im Braunschweigischen zur Welt, hieß Hieronymus mit Vornamen und wurde, kaum aus der Schule, Offizier. Das war damals bei Söhnen aus dem Adel so üblich. Die Väter lebten auf ihren Gütern, gingen auf die Jagd, ritten durch die Felder, tranken roten Punsch und ließen ihre Söhne Offizier werden. Wenn die Väter alt wurden, riefen sie die Söhne zurück. Und nun gingen diese auf die Jagd, ritten durch die Felder, tranken roten Punsch und ließen wiederum ihre Söhne Offizier werden. Wann war das denn nun, damals? Es war zu der Zeit, als die Kaiserin Maria Theresia in Österreich, Friedrich der Große in Preußen und Katharina II. in Russland regierten. Weil es überall Krieg gab, gab es überall Armeen, und weil es überall Armeen gab, brauchte man überall Offiziere. Und war im eigenen Lande wirklich einmal kein Krieg, so ritt man in ein anderes Land und trat in dessen Armee ein. Genauso ging es mit Hieronymus von Münch-hausen. Als es ihm daheim zu langweilig wurde, trat er in die russische Armee ein. Und im Krieg zwischen Russland und der Türkei wurde er gefangen genommen und erst nach einigen Jahren wieder freigelassen. Später rief ihn sein alter Vater heim nach Bodenwerder, so hieß ihr Gut und das kleine Schloss, und nun war Hieronymus der Gutsherr. Er zog die Uniform aus, ging auf die Jagd, ritt durch die Felder und trank roten Punsch. Söhne hatte er übrigens keine, und so konnte er sie auch nicht Offizier werden lassen.
Davon abgesehen, lebte er wie die anderen Barone auch, und wir wüssten heute nichts mehr von ihm, hätte er nicht beim Punsch ganz erstaunliche Geschichten erzählt. So erstaunliche Geschichten, dass die anderen Barone, der Pfarrer, der Doktor und der Amtmann, die mit ihm am Tische saßen, Mund und Nase aufsperrten. So erstaunliche Geschichten, dass sie von irgendwem heimlich aufgeschrieben und gedruckt wurden. Münchhausen war sehr ärgerlich und wollte den Druck verbieten lassen. Als er damit kein Glück hatte, starb er vor Wut. Und was an den Geschichten ist denn nun so erstaunlich? Sie stecken voll der tollsten Lügen! Mitten in Berichten über Reisen, die er wirklich gemacht, und über Kriege, an denen er wirklich teilgenommen hat, tischt Münchhausen uns Lügen auf, dass sich die Balken biegen! Durch Lügen kann man also berühmt werden? Freilich! Aber nur, wenn man so lustig, so phantastisch, so treuherzig und so verschmitzt zu lügen versteht wie Münchhausen, nicht etwa, um die Leser zu beschwindeln, sondern um sie, wie ein zwinkernder Märchenerzähler, mit ihrem vollen Einverständnis lächelnd zu unterhalten.
Dass ihr mir nun also nicht nach Hause kommt und sagt: »Denk dir, Mama, ich hab eben mit einem Auto gesprochen, und das Auto meinte, morgen gäbe es Regen!« Durch solche Lügen wird man nicht berühmt. So zu lügen wie Münchhausen ist eine Kunst. Versucht es, bitte, gar nicht erst, sondern macht lieber eure Rechenaufgaben! Und dann, wenn sie fertig sind, lest Münchhausens »Wunderbare Reisen und Abenteuer zu Wasser und zu Lande«! Ich wünsch euch viel Vergnügen!
DAS PFERD AUF DEM KIRCHTURM
Meine erste Reise nach Russland unternahm ich mitten im tiefsten Winter! Denn im Frühling und im Herbst sind die Straßen und Wege in Polen, Kurland und Livland vom Regen so zerweicht, dass man stecken bleibt, und im Sommer sind sie knochentrocken und so staubig, dass man vor lauter Husten nicht vorwärts kommt. Ich reiste also im Winter und, weil es am praktischsten ist, zu Pferde. Leider fror ich jeden Tag mehr, denn ich hatte einen zu dünnen Mantel angezogen, und das ganze Land war so zugeschneit, dass ich oft genug weder Weg noch Steg sah, keinen Baum, keinen Wegweiser, nichts, nichts, nur Schnee.
Eines Abends kletterte ich, steif und müde, von meinem braven Gaul herunter und band ihn, damit er nicht fortliefe, an einer Baumspitze fest, die aus dem Schnee herausschaute. Dann legte ich mich, nicht weit davon, die Pistolen unterm Arm, auf meinen Mantel und nickte ein.
Als ich aufwachte, schien die Sonne. Und als ich mich umgeschaut hatte, rieb ich mir erst einmal die Augen. Wisst ihr, wo ich lag? Mitten in einem Dorf, und noch dazu auf dem Kirchhof! Donner und Doria!, dachte ich. Denn wer liegt schon gerne kerngesund, wenn auch ziemlich verfroren, auf einem Dorfkirchhof? Außerdem war mein Pferd verschwunden! Und ich hatte es doch neben mir angepflockt! Plötzlich hörte ich's laut wiehern. Und zwar hoch über mir! Nanu! Ich blickte hoch und sah das arme Tier am Wetterhahn des Kirchturms hängen! Es wieherte und zappelte und wollte begreiflicherweise wieder herunter. Aber wie, um alles in der Welt, war's denn auf den Kirchturm hinaufgekommen?
Allmählich begriff ich, was geschehen war. Also: Das Dorf mitsamt der Kirche war eingeschneit gewesen, und was ich im Dunkeln für eine Baumspitze gehalten hatte, war der Wetterhahn der Dorfkirche gewesen! Nachts war dann das Wetter umgeschlagen. Es hatte getaut. Und ich war, während ich schlief, mit dem schmelzenden Schnee Zentimeter um Zentimeter hinabgesunken, bis ich zwischen den Grabsteinen aufwachte. Was war zu tun ? Da ich ein guter Schütze bin, nahm ich eine meiner Pistolen, zielte nach dem Halfter, schoss ihn entzwei und kam auf diese Weise zu meinem Pferd, das heilfroh war, als es wieder Boden unter den Hufen hatte. Ich schwang mich in den Sattel, und unsere abenteuerliche Reise konnte weitergehen.
DER SCHLITTENWOLF
Da es in Russland nicht üblich ist, hoch zu Pferde zu reisen, kaufte ich mir einen kleinen Schlitten, spannte mein Pferd vor, und wir trabten guten Muts auf Sankt Petersburg zu. Irgendwo in Estland oder in Ingermanland, so genau weiß ich's nicht mehr, auf alle Fälle aber in einem endlosen, unheimlichen Wald, wurde mit einem Male mein Pferd unruhig und raste, wie von wilder Angst gepeitscht, mit mir auf und davon. Ich drehte mich um und erblickte einen riesigen Wolf, der, halb verrückt vor Hunger, hinter uns herjagte und immer näher und näher kam.
Ihm zu entwischen war aussichtslos. Schon war er nur noch fünf Meter hinter uns — da warf ich mich, lang wie ich bin, auf den Boden des Schlittens, ließ die Zügel los, und der Wolf, der eigentlich mich als Mahlzeit ausersehen hatte, sprang über mich weg und verbiss sich wütend in mein Pferd. Das Hinterteil verschlang er, als war's nicht mehr als ein Stückchen Wurst, und das arme Tier lief vor Schmerz und Schrecken noch schneller als vorher. Als ich nach einiger Zeit wieder hinblickte, sah ich voller Entsetzen, dass sich der Wolf in das Pferd förmlich hineingefressen hatte!
Da setzte ich mich wieder hoch, ergriff die Peitsche und schlug wie besessen auf den Wolf ein. Das benagte ihm gar nicht, und er fraß sich noch schneller vorwärts. Ich schlug und schlug, und plötzlich fiel das Pferd, oder was von ihm noch übrig war, aus dem Geschirr, und der Wolf steckte darin! Mir tut mein Arm heute noch weh, wenn ich daran denke, wie ich stundenlang und pausenlos auf ihn mit der Peitsche eindrosch.
Wir flogen nur so durch den Wald und über die Felder, und dann galoppierten wir an den ersten Häusern einer großen Stadt vorbei. Das war St. Petersburg, und die Leute auf den Straßen staunten nicht schlecht. Denn einen Wolf, der einen Schlitten zog, hatten sie noch nicht gesehen!
DER TRINKFESTE GENERAL
Gleich nach meiner Ankunft in Petersburg hatte ich mich um ein Offizierspatent beworben. Doch es dauerte noch einige Zeit, bis ich in der russischen Armee eingestellt werden konnte. Und so hatte ich reichlich Zeit und Gelegenheit, mein Geld auszugeben. Bis in die Nacht spielten wir Karten. Ja, und getrunken wurde auch nicht gerade wenig! Denn in Russland ist es viele Monate kalt, und Trinken macht bekanntlich warm. Wer viel friert, trinkt viel und bekommt allmählich eine erstaunliche Übung darin. Ich lernte Leute kennen, die so viel trinken konnten, dass ich vom bloßen Zusehen einen Rausch kriegte. Was nicht heißen soll, dass ich immer nur zusah. Am meisten von allen vertrug aber ein General mit grauem Bart und kupferrotem Gesicht. Im Krieg mit den Türken hatte er, bei einem Säbelkampf, die Schädeldecke eingebüßt und behielt deswegen immer, auch wenn wir tafelten, seinen Hut auf. Er leerte während des Essens mindestens drei Flaschen Wodka und hinterdrein noch eine Flasche Arrak. Es kam aber auch vor, dass er zwei Flaschen Arrak trank. Doch so viel er auch trinken mochte — betrunken wurde er nie.