Man muss sich vorstellen, dass Archimedes, als ihm dieser Gedanken durch den Kopf schoss, für ein paar Augenblicke wie erstarrt im Wasser lag. Intuitiv ahnte er, dass dieses Gesetz des Auftriebs den Schlüssel zum Problem der Krone bildete. Und plötzlich, mit einem Schlage, wurde ihm die Ahnung zur Gewissheit. Darum sprang er aus der Wanne und raste, von seiner Entdeckung wie von einem Dämon verfolgt, splitterfasernackt nach Hause. In aller Eile, aber zugleich mit der gebotenen Sorgfalt, führte er dort folgendes Experiment durch: An die eine Seite des Balkens einer Hebelwaage hängte er die Krone seines Herrschers, an die andere so viel reinstes Gold, dass es mit dem Gewicht der Krone übereinstimmte und so ein Gleichgewicht herstellte. Der Waagbalken schwang sich in eine präzise waagerechte Position ein. Nun stellte er hinter die aufgehängte Krone und hinter das aufgehängte Gold je einen großen, mit Wasser gefüllten Topf. Er nahm vorsichtig die Waage, hob sie, führte sie mit der Hand so weit zurück, dass sowohl die Krone wie auch das Gold über den Öffnungen der Töpfe baumelten, und versenkte dann die beiden Gewichte in das Wasser, indem er die Waage wieder vorsichtig auf den Boden stellte. Der Waagbalken pendelte hin und her und beruhigte sich nach einiger Zeit, wobei er nicht mehr eine waagerechte, sondern eine schräge Position einnahm: Der Hebelarm, der die Krone hielt, war höher als der Hebelarm mit dem Gold als Gewicht.
Die Krone muss neben Gold auch unedles, leichteres Metall enthalten, war sich Archimedes nun sicher. Denn durch die Zugabe des unedlen Metalls mit der geringeren Dichte besaß die Krone ein etwas größeres Volumen als das reine Gold. Beim Eintauchen in das Wasser war der Auftrieb auf der Seite der Krone deshalb größer als auf der Seite des Goldes, denn das versenkte reine Gold hatte weniger Wasservolumen gehoben als die Krone.
Beeindruckender als das physikalische Gesetz, das Archimedes entdeckte und sogleich anzuwenden verstand, ist bei dieser Geschichte, dass sie uns erahnen lässt, wie Genies zu einer Erkenntnis gelangen. Die äußeren Umstände liegen auf der Hand: das knifflige, von Hieron gestellte Rätsel; die Ablenkung davon, als Archimedes sich ins Bad begab und im Wasser Krone und Rätsel vergaß; in der Muße, beim Liegen in der Wanne, reift in ihm die Idee, die zum Gesetz des Auftriebs führt; und plötzlich fügt sich das eine zum andern.
Wären zur Zeit des Archimedes die modernen Diagnoseverfahren der Gehirnphysiologie zur Hand gewesen und hätte man ihm während seines Liegens im Bad ein Gerät über seinen Kopf gestülpt, das die Neuronentätigkeit seines Gehirns aufzeichnete: Dieser Moment der Einsicht hätte sich in einem veritablen Neuronengewitter im Gehirn des Archimedes geäußert: eine wahre Fundgrube für Neurophysiologen, die die Vernetzungen in den verschiedensten Regionen des Gehirns hätten verfolgen können.
Aber so wertvoll derartige Untersuchungen auch sein mögen und so großen Nutzen man hoffentlich in Zukunft für die Therapie von Hirnschädigungen und Geisteskrankheiten aus ihnen wird ziehen können, der Geniestreich selbst wird den Anwendern solcher Methoden ewig verborgen bleiben. Sie sind vergleichbar mit Untersuchungen an einem Konzertflügel, auf dem ein Pianist eine Beethoven-Sonate erklingen lässt. Mit ausgefeilten Sensoren, die man im Korpus des Instrumentes anbringt, könnte man Schwingungsamplituden der einzelnen Saiten verfolgen, die Ausschläge der Hämmerchen vermessen, die Resonanzen an den verschiedensten Stellen des Stimmstocks aufzeichnen. Wenn die Geräte mit entsprechenden Programmen ausgerüstet wären, ließe sich aus diesen Messungen sogar errechnen, aus welcher Epoche das jeweilige Musikstück stammt. Solche Aufzeichnungen könnten durchaus dienlich sein, um die Qualität der jeweiligen Instrumente zu kalibrieren. Sie haben aber überhaupt nichts damit zu tun, was wir Hörenden als erhebend oder auch zuweilen als platt empfinden. Denn die Musik selbst ist nicht im Instrumentenkorpus verborgen, aus dem sie nur scheinbar tritt.
Sie befindet sich auch nicht im Gehirn oder in den Händen des Pianisten, auch nicht in den Ohren und Gehirnen derer, die ihm zuhören, und am allerwenigsten in den Luftschwingungen, die vom erklingenden Instrument aus den Saal erfüllen. All dies ist notwendig, um sie zu manifestieren, aber nirgendwo ist – um das Beispiel einer einfach zu spielenden, aber zugleich sehr schönen Komposition zu nennen – das Präludium in C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach als solches anzutreffen. Auch nicht im Notentext, der gleichsam wie ein Fußabdruck zurückblieb, nachdem Bach diesen musikalischen Einfall zu Papier gebracht hatte. Dieses Präludium irgendwo und irgendwann in Raum und Zeit fixieren zu wollen, wäre ein geradezu lächerliches Unterfangen. Bach selbst war sich des abstrakten Wesens seiner Komposition bewusst. Er verweigerte beim Wohltemperierten Klavier sogar die übliche Vorschrift, es auf einem Klavichord, einem Cembalo oder einer Orgel wiederzugeben. Im Grunde sind alle diese Instrumente hinfällige Krücken; „Erdenrest, zu tragen peinlich“, so Bachs eigene Worte.
Bei einem mathematischen Einfall ist es ähnlich. Natürlich ist er mit einer bestimmten Verteilung des Neuronenstroms im Gehirn verbunden und nur dann überhaupt möglich, wenn die körperliche Disposition ihn zu denken erlaubt. Trotzdem ist der Gehalt des mathematischen Einfalls weder im Raum noch in der Zeit fixierbar und von der jeweiligen Person, welche ihn gerade hat, völlig unabhängig.
Umso besser verstehen wir, dass Archimedes keine Sekunde zögerte, als ihm plötzlich einleuchtete, wie man das Gesetz des Auftriebs auf das Problem mit der Krone des Hieron anwenden konnte. Denn als er auf diese Lösung kam, stand sie ihm so klar und manifest vor Augen, dass er gleichsam erschrak, warum noch niemand vor ihm die gleiche Idee gehabt hatte. Denn diese Lösung lag, wie man bildhaft sehr schön formuliert, in der Luft. In diesem Augenblick befiel den ehrgeizigen Archimedes die Furcht, jemand anderer könnte sie ihm vor der Nase wegschnappen – im drögen Syrakus mit seinen an Wissenschaft, gar an Mathematik desinteressierten Kaufleuten und Bauern zwar unbegründet, aber man weiß ja nie. Denn dessen war er sich wie alle ehrgeizigen Mathematiker vor und nach ihm gewiss: Wenn seine Lösung existierte, und zwar vor allen Zeiten und allüberall, dann war der Ruhm des Forschers einzig darin begründet, als Erster hier auf Erden der Welt die Existenz dieser Lösung vor Augen zu führen.
Der Göttinger Mathematiker Hans Grauert behauptete einmal über sein Fach: „Mathematik ist keine Naturwissenschaft und keine Geisteswissenschaft. Mathematiker sind Künstler: Sie schaffen Geistesdinge.“ Allerdings sind die „Geistesdinge“, von denen Grauert spricht, von der Persönlichkeit, die sie „schafft“, unabhängig. Genau genommen ähneln Persönlichkeiten, die Mathematik betreiben, selbst wenn sie sich forschend im Neuland bewegen, eher reproduzierenden als kreativen Künstlern. Auch Gauß, der größte Mathematiker der Neuzeit, hatte seine tiefsten Erkenntnisse, die er mit klingenden Namen wie „theorema egregium“, „theorema elegantissimum“, „theorema aureum“ versah, eher entdeckt als geschaffen. Sie können gar nicht anders als so lauten, wie sie uns Gauß präsentierte. Dies ist beim kreativen Künstler ein wenig anders: Das Kunstwerk ist untrennbar mit seiner Persönlichkeit verknüpft. Es lag einfach in der autonomen Entscheidung des Johann Sebastian Bach, die Harmonien im ersten Präludium des Wohltemperierten Klaviers gerade so und nicht anders aufeinanderfolgen zu lassen. Nun aber ist es da, wir hören es in einer Aufnahme von Rosalyn Tureck, von Friedrich Gulda oder von Till Fellner, und jede dieser Künstlerpersönlichkeiten entdeckt Neues, Unerwartetes in ihm und teilt uns diese Entdeckung mit. Der Leistung dieser Interpreten ist die Tätigkeit der Mathematikerin oder des Mathematikers vergleichbar, wenn man von Mathematik als Kunst spricht.