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Wobei, jedenfalls in der großen Kunst, die Grenze zwischen „schaffen“ und „deuten“ fließend ist. Man bedenke: Tolstoi hatte, als er am Ende seines Romans Anna Karenina sterben ließ, bitterlich geweint, so sehr ist ihm der Tod der Heldin, die nichts anderes als eine von ihm geschaffene Figur war, nahegegangen. Mozart verfasste seine Kompositionen so, dass ihm das Kunstwerk in seiner endgültigen Fassung wie in einem einzigen Gedanken bewusst war und er gleichsam nur mehr die Noten „abschreiben“ musste. Michelangelo sah im kruden Marmorblock, den ihm die Arbeiter in sein Atelier stellten, bereits den David ruhen, den er schließlich aus dem Stein löste.

Bei mathematischen Erkenntnissen aber ist die Sache klar: Eine Persönlichkeit findet sie als Erste, ihr kommt der Ruhm des Entdeckers zu. Nach diesem strebt die Forscherin oder der Forscher. Selbst wenn die Erkenntnis nicht gerade weltbewegend ist. Ich selbst habe dies in jungen Jahren eindrücklich erfahren, als ich einmal einen Gedanken, den ich entwickelt hatte, meinem akademischen Lehrer Edmund Hlawka, einem der bedeutendsten Mathematiker Österreichs, vortrug. Was ich ihm erzählte und auf die Tafel in seinem Zimmer schrieb, war zwar neu, aber keine besonders tolle Angelegenheit. Sie gefiel Hlawka trotzdem recht gut, doch gleich, nachdem ich auf der Tafel fertig geschrieben hatte, wies er mich an, alles wieder zu löschen. Denn man könne nie wissen: Vielleicht käme nach mir jemand ins Zimmer, der mir diesen netten Gedanken raubt …

Zweiter zu sein zählt nicht

Wie bitter der Streit um die Priorität einer Entdeckung ausgetragen werden kann, erlebte die mathematische Welt, als es darum ging, den Entdecker des „Kalküls“, wie man in alter Zeit die Infinitesimalrechnung nannte, ausfindig zu machen. Tatsächlich handelte es sich um eine grandiose Entdeckung:

Der „Kalkül“ erlaubte, die Geschwindigkeiten von Bewegungen, und zwar auch ungleichmäßigen entlang krummer Kurven, auszurechnen. Mit dem „Kalkül“ findet man heraus, wie sich sogenannte dynamische Systeme entwickeln – so in der Astronomie das Planetensystem, in der Technik mechanische oder elektrische Schwingungen, in der Meteorologie die Luftströmungen der Atmosphäre, in der Ökonomie die Börsenkurse. Wie groß die Flächen sind, welche von Kurven eingeschlossen werden, wie groß die Volumina von Körpern sind, die krumme Oberflächen begrenzen: Der „Kalkül“ gibt darauf die Antwort.

Wer jedoch entdeckte den „Kalkül“?

Im England des 18. Jahrhunderts war die Antwort klar: es war Sir Isaac Newton, Britanniens größter Sohn. Der Einzige, den Gauß, wenn er von Mathematikern sprach, „clarissimus“, herausragend, nannte. Im Jahre 1666, als in England die Pest wütete und die Universität Cambridge ihre Pforten schloss, zog sich der damals 23-jährige Newton in sein Heimatdorf Woolsthorpe zurück. In diesem einen Jahr entwickelte er den „Kalkül“. Nachdem ihm, so erzählt Newtons größter Bewunderer, der französische Philosoph Voltaire, ein Apfel auf den Kopf gefallen war, er daraufhin den Blick zum Mond richtete und zur Überzeugung gelangte, dass die Bewegung fallender Äpfel, des Mondes und der Planeten einem einzigen mathematischen Gesetz zu gehorchen hätte. Einer Gleichung, die nur in der Sprache des „Kalküls“ formuliert werden kann.

Doch Newton zögerte, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Er fürchtete panisch die Kritik seiner Kollegen in Cambridge. Vor allem jene Robert Hookes, eines kleinwüchsigen, eitlen, Newton seit jeher missgünstig gesinnten Gelehrten, den Newton aus tiefstem Herzen hasste. Jahrelang ruhten Newtons Aufzeichnungen im verschlossenen Schreibtisch. Nur Freunden gegenüber machte er dunkle Bemerkungen, dass ihm der mathematische Schlüssel zum Verständnis der Planetenbewegungen in die Hand gegeben sei, dass jedenfalls die Annahme seines Feindes Hooke, es seien Kräfte wie die einer gespannten Feder, welche die Planeten an die Sonne binde, völlig in die Irre führe.

Sogar in den „Prinzipien der Naturphilosophie“, dem Buch, das Newton nach jahrelangem Drängen seines Verehrers, des Astronomen, Geophysikers und Kartographen Edmond Halley und erst, als die Neuvermessungen des Abstandes von der Erde zum Mond in Newtons Gleichungen eingesetzt zu einer völligen Übereinstimmung der mathematisch erhaltenen Resultate mit den Beobachtungen führten, zum Druck freigab, war der „Kalkül“ nur so weit erläutert worden, wie es Newton gerade benötigte.

Denn Newton wusste nicht mit letzter mathematischer Sicherheit, warum der „Kalkül“ so gut funktioniert. Der „Kalkül“ liefert zwar raffinierte und elegante Verfahren zur Berechnung von Geschwindigkeiten oder von Flächen- und Rauminhalten, aber das Fundament, auf dem der „Kalkül“ gründet, war noch unerforscht.

Umso befriedigter war Newton, dass die Öffentlichkeit, nicht nur die Kollegenschaft seiner Universität, sondern die gesamte internationale Forschergemeinde, ja sogar das an der aufkommenden Naturwissenschaft interessierte Laienpublikum sein Buch über die Prinzipien der Naturphilosophie als Meilenstein einer neuen Ära anerkannte. Er erwarb den Adelstitel, wurde Präsident der Royal Society, der ehrbarsten wissenschaftlichen Gesellschaft der Welt – als der er unter anderem dafür sorgte, dass alle Gemälde seines verhassten Kollegen Hooke, derer er habhaft werden konnte, vernichtet wurden. Als man Newton einmal fragte, wie es ihm gelungen sei, die Mathematik des Planetensystems, ja der gesamten Mechanik zu entdecken, gab er zur Antwort: „Weil ich auf den Schultern von Riesen gestanden bin.“ Das klingt bescheiden; anderen vor ihm sei dafür zu danken, dass er so weit hatte blicken können. In Wahrheit aber ist diese Antwort als Attacke gegen Hooke zu lesen, der zwergenhaft klein war.

Über die Verachtung Hookes hinaus aber ging der abgrundtiefe Hass Newtons auf Gottfried Wilhelm Leibniz, den damals größten Gelehrten des europäischen Festlands, den Newton zwar nie persönlich traf, mit dem er aber in jungen Jahren brieflich korrespondierte. Warum hasste Newton ihn so? Leibniz hatte in der Zeitschrift Acta eruditorum einige Artikel veröffentlicht, in denen er den „Kalkül“ präsentierte, jene mathematische Theorie, als deren Entdecker sich Newton wähnte. Womöglich, so vermutete der argwöhnische Newton, hatte dieser Deutsche die Grundzüge des „Kalküls“ aus seinen Briefen herausgelesen, ihn regelrecht bestohlen. Und das Ärgerlichste aus der Sicht Newtons war, dass die Artikel in der Acta eruditorum viel früher erschienen als Newtons Buch über die Prinzipien der Naturphilosophie. Auf dem Kontinent galt in wissenschaftlichen Kreisen – ohne dass man Newtons Leistungen im Bereich der Physik schmälern wollte – Leibniz als Entdecker des „Kalküls“.

Dass Newtons Gefolgsleute zu jeder sich bietenden Gelegenheit betonten, Newton sei der Erste gewesen, dem die Idee für den „Kalkül“ gekommen war, genügte dem sich in seiner Ehre tief gekränkt Fühlenden nicht. Er wollte, dass ein für alle Mal dokumentiert sei, nur ihm, Sir Isaac Newton, komme der Ruhm zu, den „Kalkül“ entdeckt zu haben. Sich diese Ehre mit einem Zweiten zu teilen, war in seinen Augen undenkbar, denn der Zweite, also Leibniz, sei nicht genialer Entdecker, sondern hinterlistiger Plagiator. Also wurde auf Drängen Newtons von der Royal Society eine Kommission eingesetzt, die in einem Untersuchungsverfahren zu klären hatte, wer als Erster den „Kalkül“ entworfen hatte. Die Tücke dahinter war, dass Newton als Präsident der Royal Society die Mitglieder dieser Kommission wie Marionetten beherrschte und von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen verstand. Der Endbericht, den die nur scheinbar unabhängige und nach objektiven Kriterien urteilende Kommission erstellte, wurde von Newton im Voraus Wort für Wort diktiert. Carl Djerassi, weltberühmter amerikanischer Chemiker mit österreichischen Wurzeln, hat im Zuge seiner zweiten Karriere als Schriftsteller im Drama „Kalkül“ diese von Newton inszenierte Schmiere effektvoll beschrieben.