Nun, dreihundert Jahre später, sind wir angesichts der bekannten Korrespondenz zwischen Newton und Leibniz und der übrigen historischen Umstände sicher, dass die Entdeckung des „Kalküls“ beiden Forschern ungefähr zur gleichen Zeit gelang, aber jedenfalls ohne dass der eine vom anderen abkupferte. Wobei französische Wissenschaftshistoriker nie versäumen, auf die Leistungen des Rechtsgelehrten und Hobbymathematikers Pierre de Fermat hinzuweisen, der bereits vor Newton und Leibniz die Grundzüge des „Kalküls“ erahnt hatte. Aber da Fermat seine Erkenntnisse bloß in Briefen, oft verschleiert, oder in privaten Notizen aufzeichnete, waren sie damals nur dem kleinen Zirkel seiner engsten Freunde bekannt. Erst Jahrzehnte später hat der Schweizer Mathematiker Euler die bahnbrechenden Ideen Fermats einer breiten mathematischen Öffentlichkeit vermittelt.
Der „Kalkül“ dürfte im 17. Jahrhundert wirklich „in der Luft gelegen“ sein: Völlig unabhängig von Fermat, Newton oder Leibniz hatte der japanische Mathematiker Seki Takakazu ein Rechenverfahren entwickelt, das dem in Europa entdeckten „Kalkül“ auf wundersame Weise entspricht.
Aber in Wahrheit hatte bereits Archimedes im dritten vorchristlichen Jahrhundert jedenfalls zu einem gewichtigen Teil den „Kalkül“ vorweggenommen. Ja, er verstand sogar besser als Newton oder Leibniz, wie man ihn präzise begründen kann. An einem einfachen Rechenbeispiel, das Archimedes vielleicht anlässlich seiner Reise nach Alexandria im fernen Ägypten kennengelernt hatte, können wir den Unterschied zwischen dem unbeschwerten Rechnen der ungestümen Draufgänger Leibniz und Newton, die wie Reiter über den Bodensee hinwegfegten, und der tiefsinnigen Gedankenführung des Archimedes gut verstehen:
Ägyptische Brüche
Ägypten war neben Mesopotamien jenes Land, in dem die erste Hochkultur der Menschheit entstand. Wie viele andere Völker der grauen Vorzeit glaubten auch die Ägypter an eine Vielzahl von Göttern, die das Schicksal der Menschen und der Welt bestimmen. Der Götterhimmel der Ägypter ist verwirrend groß: Einer der vielen verschiedenen Traditionen gemäß ist Atum der Sonnengott, Schu der Gott der Luft, Tefnut die Göttin der Feuchtigkeit, Geb der Gott der Erde, Nut die Göttin des Himmels, und die Gottheiten Isis, Osiris, Seth, Nephtys sind Urenkel des Atum. Horus, der Sohn von Isis und Osiris, ist der meistverehrte ägyptische Gott. Der Pharao gilt als Verkörperung des Horus auf der Welt. Die Augen des Horus sind Sonne und Mond, wobei der Mond das „Udjat-Auge“ genannt wird.
Der Sage nach riss Seth, der Bruder von Osiris, Horus das Auge aus, als sich beide Rivalen im Kampf um den Thron von Osiris befanden, und zerbrach es. Thot, der weise Mondgott, Schutzpatron der Wissenschaften und der Schreibkunst, sah die unzählig vielen Teile, große und kleine, und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen.
Das größte Bruchstück war genau die Hälfte des Udjat-Auges, das zweitgrößte genau ein Viertel des Udjat-Auges. Als Thot sie zusammenfügte, heilte er schon drei Viertel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Achtel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so schon sieben Achtel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Sechzehntel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so 15 Sechzehntel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Zweiunddreißigstel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so 31 Zweiunddreißigstel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Vierundsechzigstel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so 63 Vierundsechzigstel des Auges. So arbeitete Thot geduldig und setzte bis auf ein Vierundsechzigstel das von Seth zerbrochene Auge des Horus wieder zusammen.
In dieser eigenartigen Geschichte hatten die Ägypter die Bruchzahlen
entdeckt. Der Name „Bruchzahl“ ist dabei sehr treffend gewählt, weil er an das zerbrochene Auge des Horus erinnert.
Wir wissen nicht, ob Archimedes die Geschichte vom zerbrochenen Auge des Gottes Horus gehört hat. Wir wissen nicht einmal mit letzter Bestimmtheit, ob er tatsächlich jemals in Ägypten war. Aber wenn Archimedes diese eigenartige Erzählung vernommen hat, wird er sich sofort die Frage gestellt haben: Was ist, wenn der Gott Thot nicht nur die sechs größten Bruchteile des Auges zusammengesetzt hätte, sondern die Heilung des Auges weiter vorangetrieben hätte? Jeder nachfolgende Bruchteil ist halb so groß wie der vorangegangene; in unendlich viele Bruchstücke ist das Auge zerfallen. Wäre es Thot gelungen, das Auge vollständig wiederherzustellen?
Ganz sicher nicht, so würde Archimedes geantwortet haben. Denn wie lange er auch geduldig die Bruchstücke addierte, immer noch würden Splitter, gar unendlich viele, übrig bleiben. Aber Archimedes hatte auch erkannt: Je geduldiger Thot arbeitete, umso besser geriet sein Werk. Denn was fehlte, wenn er einmal nach mühsamer Arbeit das Zusammensetzen beendete? Nur jener kleine Teil des Auges, der so groß ist wie das kleinste Bruchstück, das er als Letztes hinzugefügt hatte. Die Lücke wird mit jedem Arbeitsschritt in ihrer Größe halbiert und daher mit der Zeit unscheinbar klein. Allein wenn Thot die ersten 64 Bruchstücke des Auges zusammengesetzt hätte, bliebe nur mehr eine Lücke übrig, die genau
also weniger als ein Achzehntrillionstel des ganzen Auges ausmacht – wir erinnern uns hier an die Geschichte vom Maharadscha, dem weisen Mann und dem Schachbrett, bei dem auf den 64 Feldern die Anzahl der Reiskörner jeweils verdoppelt wird.
Daher legen wir Archimedes die folgende Antwort in den Mund: Je geduldiger Thot das Auge des Horus zusammensetzt, umso besser gerät sein Heilungswerk; selbst den kleinsten Hauch einer Lücke, den Horus als winzigen „blinden Fleck“ empfindet, kann Thot nach weiterem mühseligem Aneinanderfügen der Bruchstücke verkleinern.
Wie schon bei Archimedes wissen wir auch bei Newton oder Leibniz nicht, ob sie die Geschichte vom zerbrochenen Auge des Gottes Horus kannten. Doch ganz sicher hätten die beiden Erfinder des „Kalküls“ anders, deutlich unbefangener als Archimedes geantwortet, hätte man sie gefragt, ob es Thot jemals gelingen würde, das Auge vollständig wiederherzustellen:
Ganz sicher, so hätten sie geantwortet. Denn sie glaubten sich vorstellen zu können, dass Thot – und bei Göttern ist ja vieles uns Menschen Undenkbare möglich – unendlich lange an der Zusammensetzung des Auges arbeitet, dass er nicht nur die ersten sechs Bruchstücke zusammensetzt, sondern alle unendlich vielen. Dann hätte er das ganze Auge lückenlos geheilt. In einer Formel geschrieben:
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Das Ungeheuerliche an dieser Formel sind die drei Punkte … nach dem letzten Pluszeichen. Denn sie symbolisieren, so Newton und Leibniz, unendlich viele weiter zu addierende Bruchzahlen, die nachfolgende stets halb so groß wie die zuvor genannte. Aber eine Addition mit unendlich vielen Summanden kann niemand bewerkstelligen. Nicht im Kopf, nicht mit Bleistift und Papier, nicht mit dem Abakus und auch nicht mit einem hochmodernen High Performance Computer.
Den Erfindern des „Kalküls“ war dies zwar bewusst, aber sie meinten, dass zwar wir hinfälligen Menschen bloß endlich viele Summanden addieren können, Gott – für Newton und Leibniz ist es nicht mehr einer der ägyptischen Götter, sondern der christliche Gott – hingegen habe in seiner Allmacht auch bei einer Addition mit unendlich vielen Summanden kein Problem. Und insgeheim waren sie stolz, dass ihnen mit dem „Kalkül“, wie sich Einstein gerne ausdrückte, ein „Blick in die Karten des Alten“ gegönnt war, sie dem Allmächtigen ein Stück des Geheimnisses beim Umgang mit dem Unendlichen entreißen konnten.