Wie gingen die Erfinder des „Kalküls“ vor? Wir wollen die unendliche Summe
ausrechnen, behaupten sie. Bei ihr werden unendlich viele Summanden addiert, der erste Summand ist ½ und der jeweils nachfolgende stets um die Hälfte kleiner als sein Vorgänger. Lassen wir den ersten Summanden ½ weg, bleibt
übrig. Hier steht offenkundig genau die Hälfte der obigen Summe. Und diese Hälfte ist um ½ kleiner als die obige Summe. Also muss die obige Summe 1 sein. Denn zieht man von 1 die Zahl ½ ab, bleibt ½ übrig, und das ist die Hälfte von 1.
Wer das zum ersten Mal liest, wird anfangs noch stutzig sein, weil das Argument wie der Trick eines Falschspielers klingt. Aber liest man es langsam, mehrfach und lässt man sich auf die Gedankenführung ein, überzeugt sie immer mehr, bis man von ihrer Stringenz beeindruckt ist.
Wer sich davon sicher nicht hätte beeindrucken lassen, war Archimedes. Seine Deutung hielt er für überzeugender: Einerseits bleibt jede endliche Summe der Bruchstücke des Udjat-Auges kleiner als 1. Andererseits wird jede Zahl, die kleiner als 1 ist, von einer endlichen Summe der Bruchstücke des Udjat-Auges übertroffen, wenn Thot nur genügend viele dieser Bruchstücke addiert. Die Summe der Bruchstücke des Udjat-Auges nähert sich daher der Zahl 1 beliebig genau an. Mehr aber könne man nicht sagen.
Dass Archimedes mit seiner Skepsis recht hatte, zeigt das folgende Beispiel einer anderen unendlichen Summe, nämlich:
1 + 2 + 4 + 8 + 16 + … .
Halten wir uns an die Erfinder des „Kalküls“, lautet der analoge Gedankengang so: Wir wollen diese unendliche Summe ausrechnen, behaupteten sie. Bei ihr werden unendlich viele Summanden addiert, der erste Summand ist 1 und der jeweils nachfolgende stets um das Doppelte größer als sein Vorgänger. Lassen wir den ersten Summanden 1 weg, bleibt
2 + 4 + 8 + 16 + 32 + …
übrig. Hier steht offenkundig genau das Doppelte der obigen Summe. Und dieses Doppelte ist um 1 kleiner als die obige Summe. Also muss die obige Summe −1 sein. Denn zieht man von −1 die Zahl 1 ab, bleibt −2 übrig, und das ist das Doppelte von −1.
Es ist wortgetreu das gleiche Argument wie oben. Wer vom obigen Gedankengang überzeugt war, muss es hier genauso sein. Aber das Argument der Erfinder des „Kalküls“ führt zu dem wahrhaft paradoxen Ergebnis
1 + 2 + 4 + 8 + 16 + … = −1.
Da stimmt doch etwas nicht! In der Tat: Die Erfinder des „Kalküls“ muteten sich bei ihrer Behauptung, mit unendlichen Summen rechnen zu können, zu viel zu.6 Sie waren mathematische Genies, aber mathematische Götter waren sie nicht.
Die Rinder des Sonnengottes
Wobei man es sich als bitteres Los vorstellen muss, ein griechischer Gott zu sein, eine jener Gestalten, die Hesiod und Homer in ihren phantasievollen Erzählungen beschrieben haben. Die Götter der Griechen sind – die aufgeklärten Griechen zur Zeit Platons wussten es natürlich – ein Ausbund von Widerlichkeit: der nach allem, was weiblich ist, gierende Göttervater Zeus, die ihn eifersüchtig verfolgende Hera, die aus dem Schaum des Meeres geborene Aphrodite, die jedem Gott und jedem Sterblichen die Augen verdreht, die aus dem Kopf des Zeus entsprungene, ewig jungfräuliche und zickig launische Athene, der dunkle, die Unterwelt beherrschende Hades und die verzweifelt in seinem Schattenreich hausende Persephone: All diese und noch viele andere Gottheiten und Halbgötter sind Produkte überspannter Phantasien. Sie sind glatter Schwindel. Modern gesprochen: Homer und Hesiod erfanden in den Augen der aufgeklärten Griechen das, was man heute Soap-Operas nennt: Am Olymp, jenem Berg, auf dem die Götter hausen, spielen sich Intrigen, Tragödien und Komödien sonder Zahl ab, die – wie bei Soap-Operas üblich – kein Ende finden. Denn der einzige Unterschied zwischen Menschen und Göttern ist, so hören wir von den einfallsreichen Dichtern, dass jene sterblich sind, diese aber nicht sterben können.
Trotzdem wurden die Ilias und die Odyssee, die beiden großen dichterischen Werke des Homer, von den gebildeten Griechen mit Begeisterung gelesen. Weil sich hinter all den vordergründigen Geschichten von Liebe, Hass und Verrat tiefe Wahrheiten verbergen, in der Schönheit der Sprache, in der Pracht der damals gesungenen Verse und in der Kraft des dichterischen Einfallreichtums. Auch Archimedes hatte die Odyssee gut gekannt und eine ihn offenkundig faszinierende Episode für ein mathematisches Rätsel verwendet, das seinesgleichen sucht.
Nachdem Odysseus und seine Gefährten den schrecklichen Ungeheuern Skylla und Charybdis entkommen waren, näherten sie sich der von Helios, dem Sonnengott, beschützten Insel Sizilien, Trinakria genannt, der späteren Heimat des Archimedes. Odysseus selbst wollte an ihr vorbeisegeln, aber seine Gefährten überredeten ihn, auf der paradiesischen Insel Halt zu machen, um für ein paar Tage Ruhe zu finden. Odysseus warnte sie, sich ja nicht an den auf Sizilien weidenden Rindern zu vergreifen. Denn sie waren heilige Tiere, dem Gotte Helios geweiht. Doch als sich die mitgebrachten Vorräte zu Ende neigten und ungünstige Winde keine Weiterfahrt erlaubten, missachteten die hungrigen Gefährten des Odysseus seine Warnung und schlachteten einige der Rinder. Das sollte ihnen nicht gut bekommen. Helios verlangte vom Göttervater Zeus Genugtuung für die frevelhafte Tat. Kaum hatten Odysseus und seine Gefährten Sizilien verlassen, brach ein Unwetter herein. Zeus schmetterte Blitze gegen das Schiff, und bis auf Odysseus, der keines der Rinder des Helios berührt hatte und sich an einen Mast geklammert retten konnte, ging die gesamte Mannschaft unter.
Archimedes stellte nun sich und einem Akademikerfreund die Frage, wie viele Rinder damals eigentlich auf Siziliens sonnendurchtränkten Weiden gegrast hatten.
1773 entdeckte Gotthold Ephraim Lessing, damals Bibliothekar der Herzoglich-Braunschweigischen Bibliothek in Wolfenbüttel, in einem Codex dieser Bibliothek einen von Archimedes verfassten Brief, der an den von Archimedes als Kollegen geschätzten alexandrinischen Gelehrten Eratosthenes gerichtet war. Zum Inhalt hatte er ein ausgeklügeltes mathematisches Rätsel, das in einem aus 44 Doppelzeilen bestehenden Gedicht formuliert war. In ihm stellte Archimedes eben diese Frage: Wie viele Rinder des Sonnengottes Helios gab es an den Gestaden Siziliens?
Als Information teilte Archimedes dem Eratosthenes höchst verwickelte Beziehungen zwischen den Zahlen der weißen, der schwarzen, der braunen und der gefleckten Rinder, sorgfältig nach Kühen und Stieren getrennt, mit.7 Die Aufgabe bestand aus zwei Teilen. Der erste war – jedenfalls im Vergleich zum zweiten – noch einfach. Archimedes konnte annehmen, dass sein Kollege Eratosthenes dieser ersten Teilaufgabe gewachsen war. Bei ihr brauchte man nur die vier Grundrechenarten zu beherrschen – allerdings musste man sehr geübt sein, denn der Rechenaufwand ist beachtlich. Falls Eratosthenes die erste Teilaufgabe gelöst hat, wird er erkannt haben, dass die Zahl der Rinder ein Vielfaches von 50 389 082 beträgt. Wie groß dieses Vielfache ist, bleibt bei der ersten Teilaufgabe noch offen. Bei der mühseligen Art, wie die Griechen der Antike Zahlen benannten, ist eine so große Zahl wie 50 389 082 zu fassen ein fast unlösbares Unterfangen. Archimedes dürfte sich diebisch gefreut haben, als er sich vorstellte, wie sehr sich Eratosthenes schon beim ersten Aufgabenteil abmühen musste.