Als sich Opalka der Zahl 4 000 000 näherte, lud er ein Kamerateam in sein Atelier im südfranzösischen Bazérac ein, das ihn beim mönchischen Zählen filmte. Dabei waren es nicht einmal so sehr die „runden“ Zahlen, die ihn in den Bann zogen, sondern vielmehr jene, die aus der gleichen Ziffer gebildet sind. Ganz besonders angetan war er von diesen Zahlen, wenn auch die Zahl der Stellenwerte mit jener der Ziffer übereinstimmt. Das sind also nach 1 die Zahlen 22, 333, 4444. Sie brachte er auf seiner ersten Bildtafel unter. Danach folgt 55 555; erst in einem späteren „Detail“ taucht sie auf. Bis Opalka die Zahl 666 666 malen konnte, musste er schon Jahre vergehen lassen. Wunderbar wäre es, so hoffte er bis kurz vor seinem Tod, bis zu 7 777 777 vordringen zu können. Die Zahl 88 888 888 ist hingegen jenseits seiner irdischen Kraft. Hätte er früher mit seinem Unternehmen begonnen, wäre 7 777 777 für ihn möglicherweise noch erreichbar gewesen. Es mag die bittere Einsicht gewesen sein, die ersten 34 Jahre seines Lebens sinnlos vergeudet zu haben, die ihn schon zu Beginn seines Projekts in eine Krankheit stürzte. Als Peter Lodermeyer ihn fragte: „Aber wann hat Ihr Werk denn angefangen, als Sie die 1 gemalt haben oder damals in Warschau, als Sie im Café auf Ihre Frau gewartet haben und Ihnen die Idee zu dem Konzept gekommen ist?“, antwortete er: „Um im Bild zu bleiben, die Liebe hat damals im Café angefangen, aber die Realisierung dieser Liebe kam erst nach ungefähr sieben Monaten. Also, die 1 wäre die Realisierung. Ich hatte es schon in Amsterdam erzählt: Ich hätte sterben können in dem Moment, wo ich eine echte Emotion gehabt habe, weil ich schon wusste, was da anfängt als Konzept. Ich wusste, das wird sich durch mein ganzes Leben ziehen. Wenn du so eine kleine Zahl malst, die 1, dann hast du eine Emotion, das kannst du dir nicht vorstellen. Nach ein paar Wochen hatte ich ein Herzproblem, denn die Spannung war so unglaublich stark. Nicht nur, weil das so gut war, sondern wegen des Opfers, das ich mein ganzes Leben lang für dieses Werk bringen musste. Das war das Problem. Ich war einen Monat mit Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus, das war beängstigend. Nach einem Monat bin ich zurück – und habe weitergemacht, bis heute. Kunst braucht Intelligenz, aber nicht unbedingt mehr als die emotionalen, körperlichen, mentalen Anteile. Leonardo da Vinci hat das gesagt, und wie recht hat er: ,L’arte e una cosa mentale’. Das ist phantastisch. Dieser Satz enthält eine ganze Welt.“
Am 6. August 2011 starb Roman Opalka. Er hat 233 „Details“ gemalt, mehr als fünfeinhalb Millionen Zahlen gezählt.
Quadrat- und Kubikzahlen
Schneller kommt man beim Zählen voran, wenn man nur die geraden Zahlen 2, 4, 6, 8, 10, … zählt und die ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7, 9, … auslässt. Lange Zeit dürfte in der Geschichte der Menschheit diese Bündelung in Paaren vorgeherrscht haben. Andere Bündelungen kannte man wohl noch nicht. Die Sprache belegt diese Vermutung. Während wir für Zahlen, die durch zwei teilbar sind, den Namen „gerade Zahlen“ haben, kennen wir keine Bezeichnung für Zahlen, die durch drei teilbar sind. Und während eine Zahl, die bei der Division durch zwei den Rest eins lässt, mit dem Wort „ungerade“ bezeichnet wird, ist für eine Zahl, die bei der Division durch drei den Rest eins oder den Rest zwei besitzt, kein besonderer Name geläufig.
Während die Folge der geraden Zahlen auch von kleinen Kindern in Windeseile begriffen wird, tun sie sich beim Aufzählen der Folgen der durch drei teilbaren, der durch vier teilbaren und der durch noch größere Ziffern teilbaren Zahlen erheblich schwerer. Aber zum Einüben des „kleinen Einmaleins“ müssen sie die „Dreierfolge“ 3, 6, 9, 12, 15, …, die „Viererfolge“ 4, 8, 12, 16, 20, … und alle weiteren Folgen bis hin zur „Neunerfolge“ 9, 18, 27, 36, 45, … brav auswendig lernen. Erst bei der „Zehnerfolge“ 10, 20, 30, 40, 50, … fühlen sie sich erlöst, weil sie so einfach wie das Zählen selbst ist.
Zwar erreicht man mit Bündeln gleichen Umfangs, wenn man zum Beispiel in Dutzenden oder – heute fast schon unbekannt – in Schocks, also in 60er-Bündeln zählt, bei ähnlichem Aufwand größere Zahlen als beim Zählen der Einzeldinge. Aber zu Zahlen, die von gänzlich anderer Größenordnung sind, gelangt man dadurch nicht.
Was hingegen das Bündeln die Menschen früher Hochkulturen lehrte, war das Multiplizieren. Und zugleich ein geometrisches Bild dessen, was die Multiplikation bedeutet. Wenn man zum Beispiel ein „Sechserbündel“ als sechs dicke Punkte in einer Zeile darstellt und wenn sieben derartige Zeilen untereinander geschrieben werden, hat man die Zahl 42 als „Rechteckzahl“, nämlich als 7 × 6 dargestellt. Töricht ist jener, der die Punkte dieser Rechteckzahl der Reihe nach abzählt, bis er bei 42 zu Ende kommt. Dieses Zählen ist unnötig, denn das Rechnen liefert einem sofort das Ergebnis: es ist die Zahl 7 × 6.
So kommt man mit dem Multiplizieren zu größeren Zahlen als mit dem Zählen allein. Allerdings nicht zu allen Zahlen. Die sogenannten Primzahlen sträuben sich dagegen – wir kommen später darauf zu sprechen. Aber wenn zum Beispiel Platon verlangt, dass in seinem idealen Staat genau 5040 Bürger leben sollen, braucht er diese nicht einzeln abzuzählen. Es genügt, wenn sie in der Formation eines Rechtecks antreten: 60 Bürger jeweils in einer Reihe. Dann muss es 84 derartige Reihen geben, denn 84 × 60 stimmt mit 5040 überein.
Ungeschickter wäre es gewesen, Platon hätte die Bürger in einer Zweierreihe antreten lassen. Dann hätte er bis 2520 zählen müssen. Je näher also das Rechteck einem Quadrat gleichkommt, umso effektiver ersetzt das elegante Multiplizieren das stümperhafte Zählen.
Können die Punkte, die eine Zahl symbolisieren, zu einem quadratischen Muster geordnet werden, nennt man die Zahl eine Quadratzahl. Es ist klar, dass die ersten Quadratzahlen
1 × 1 = 1, 2 × 2 = 4, 3 × 3 = 9, 4 × 4 = 16,
5 × 5 = 25, …
lauten. Die Folge 1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, 100, 121, 144, … der Quadratzahlen wächst rasch. Und es ist bemerkenswert, dass die Folge der Differenzen jeder Quadratzahl zu ihrer vorhergehenden, also
4 − 1 = 3, 9 − 4 = 5, 16 − 9 = 7, 25 − 16 = 9,
36 − 25 = 11, …
mit 3 beginnend die ungeraden Zahlen liefert.
Multipliziert man nicht zwei, sondern drei Zahlen miteinander, zum Beispiel 3 × 4 × 5, bildet man gleichsam Bündel von Bündeln. Sieht man 4 × 5 als Rechteckzahl, bei der vier aus jeweils fünf Punkten bestehende Zeilen untereinandergeschrieben sind, werden bei 3 × 4 × 5 drei dieser Rechtecke aufeinandergestapelt. Es entsteht ein Quader, der aus insgesamt 60 Punkten besteht. Die Tatsache, dass man die relativ große Zahl 60 so einfach mit drei Ziffern fassen kann, beeindruckte die frühen Rechenmeister in grauer Vorzeit sicher sehr. Die größte auf diese Weise aus drei einstelligen Ziffern gebildete Zahl ist 9 × 9 × 9 = 729, im Vergleich zur Ziffer 9 ein wahres Zahlenmonster.
Allgemein spricht man von einer Kubikzahl, wenn sie sich als dreifaches Produkt einer Zahl mit sich selber schreiben lässt. Ihr geometrisches Bild ist ein Würfel, lateinisch cubus, daher ihr Name. Die ersten Kubikzahlen lauten
1 × 1 × 1 = 1, 2 × 2 × 2 = 8, 3 × 3 × 3 = 27,
4 × 4 × 4 = 64, 5 × 5 × 5 = 125, … .
Wie man sieht, wächst die Folge 1, 8, 27, 64, 125, 216, 343, 512, 729, 1000, 1331, 1728, … der Kubikzahlen erheblich rasanter als die Folge der Quadratzahlen. Die 200. Kubikzahl lautet 200 × 200 × 200, beträgt also 8 000 000, acht Millionen. Sie ist größer als die Zahl 7 777 777, die Roman Opalka vorschwebte, nach jahrzehntelangem Malen noch erreichen zu können.
Auf den ersten Blick wirkt 200 × 200 × 200 niedlich: Zweihundert Punkte in einer Zeile angeschrieben, das kann man sich ganz gut vorstellen. Zweihundert derartige Zeilen der Reihe nach untereinander gesetzt, auch dieses Punktequadrat überfordert unsere Vorstellungskraft kaum. Und zweihundert derartige Quadrate übereinandergeschichtet, was sollte daran gigantisch sein? Aber trotzdem: Roman Opalka nahm sich, bildhaft gesprochen, vor, jeden einzelnen Punkt dieses Kubus zu berühren, seine Nummer auf die Leinwand zu bannen. Und selbst nach 46 Jahren dieser ermüdend monotonen Tätigkeit ist es ihm nicht gelungen, bis zum letzten Punkt dieses Kubus vorzudringen. Opalka erlosch mitten in ihm.