Ein solch schönes Leben konnten sie sich leisten, weil sie wussten, wie man den Zeitpunkt des Nilhochwassers berechnen konnte. Sie beobachteten die Sterne, die über der Wüste Ägyptens Nacht für Nacht glanzvoll strahlten. Und sie stellten fest, dass immer nach dem Erscheinen eines besonders hellen Sterns knapp vor Sonnenaufgang, des Sirius im Sternbild der Hunde, der Nil über die Ufer trat. Diese besondere Zeit des Jahres hieß Hundstage, ein Name, der sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Vor allem aber verstanden die Berater des Pharaos etwas, das sonst niemand in Ägypten beherrschte:
Sie konnten zählen.
Nicht nur bis acht oder bis zwölf, das werden die Bauern auch gekonnt haben, sondern weit über hundert, zweihundert, dreihundert hinaus. Dies verstanden damals sicher nur ganz wenige Menschen. Denn fast niemand konnte schreiben, und große Zahlen wie 365 oder 1460 hat man nur dann im Griff, wenn man sie aufzuschreiben versteht.
Tatsächlich waren zuerst diese beiden die entscheidenden Zahlen, die den Beratern des Pharaos zu ihrer Macht verhalfen.
Die Bedeutung der Zahl 365 liegt auf der Hand: Die Priester und Schriftgelehrten Ägyptens wussten, dass es fast genau 365 Tage von einem Aufgang des Sirius bis zum nächsten dauert. So viele Tage umfasst daher das ägyptische Jahr. Die Berater hatten ihre Beobachtungen des Himmels über die Jahrzehnte allerdings sehr sorgfältig vollzogen und ein noch tieferes Geheimnis gelüftet: Schleichend verzögert sich der Aufgang des Sirius so, dass er sich gleichsam jedes vierte Jahr um einen Tag verspätet. Dieses zusätzliche Wissen behielten sie für sich, die Dauer des ägyptischen Jahres teilten sie freizügig dem ganzen Volke mit. Um es den Zahlenunkundigen beibringen zu können, unterteilten sie das Jahr in zwölf Monate und jeden Monat in drei Dekaden, wobei eine Dekade aus zehn Tagen besteht. Somit bestanden alle Monate aus 30 Tagen. Die Gesamtheit der zwölf Monate umfasst 360 Tage. Und wenn die zwölf Monate vorüber waren, fügten die Ägypter zum Jahresabschluss fünf feierliche Zusatztage ein. So gelangten sie zu den 365 Tagen des ägyptischen Jahres1.
Die genaue Kenntnis darüber, wann der Sirius aufgeht, behielten die Berater für sich: Jedes vierte Jahr war es ein anderer Tag, an dem verkündet wurde, dass der Sirius das Kommen des Nils anzeigt. Den Bauern war das ein Rätsel, den Beratern hingegen nicht. Sie wussten: Wenn vier mal 365 Jahre vergangen sind, das sind 1460 Jahre, dann ist der große Zyklus zu Ende: jener von den Priestern nach der Göttin Sothis benannte Zyklus, an dem jeder Tag des Jahres an jeweils vier aufeinanderfolgenden Jahren als Tag des Aufgangs des Sirius gefeiert wurde. Doch niemand, außer den Gebildetsten der Schriftgelehrten, konnte mit einer so großen Zahl wie 1460 verfahren.
Und die Schriftgelehrten waren darauf bedacht, dass es so für immer bleiben möge. Also ließen die Zahlenkundigen das Volk im Glauben, der Pharao erführe immer aufs Neue von den Göttern den genauen Zeitpunkt der Anschwellung des Nils. Selbst als im Jahr 237 v. Chr. – drei Generationen, nachdem Alexander der Große mit seinem griechischen Heer Ägypten erobert hatte, die nach ihm benannte Stadt Alexandria mit ihrer weltberühmten Bibliothek gegründet war und mehr Menschen als je zuvor zu lesen, zu schreiben und zu rechnen verstanden – der Pharao Ptolemäus III., auch er ein hochgebildeter Grieche, jedes vierte Jahr einen Schalttag einführen wollte, wehrte sich die Priesterschaft Ägyptens energisch dagegen. Sie setzte nach des Ptolemäus Tod sein Dekret wieder außer Kraft. Denn dann wäre der Nil immer an den gleichen Tagen des Jahres über die Ufer getreten, die Bevölkerung hätte die Weissagungen des Pharaos nicht mehr gebraucht, die Schriftgelehrten hätten ihren Einfluss verloren.
Große Zahlen bedeuten große Macht.
Die mächtigen Zahlen des Drachen Tiamat
Blickten in Ägypten die Zahlenkundigen auf den Sirius, so verfolgten die Astronomen des Zweistromlandes, der Wüstengegend, durch die Euphrat und Tigris als lebenspendende Ströme fließen, den Lauf der beiden auffälligsten Gestirne des Himmelszeltes: der Sonne und des Mondes. Beide gehen in östlicher Richtung auf, erreichen im Süden ihren höchsten Punkt über dem Horizont und gehen in westlicher Richtung unter. Wir wissen heute, dass diese scheinbare Bewegung durch die Drehung der Erde vom Westen zum Osten um ihre eigene Achse entsteht. Auch das ganze Himmelsgewölbe führt innerhalb von 24 Stunden diese scheinbare Drehbewegung von Osten nach Westen durch.
Allerdings bleiben Sonne und Mond nicht an ihrem Ort am Himmelszelt verankert, sondern durchlaufen entlang der Himmelskugel nahe beieinanderliegende Kreise, welche die Sonne beziehungsweise den Mond entlang der zwölf Sternzeichen Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische führen. Der Kreis auf der Himmelskugel, den die Sonne durchzieht, heißt Ekliptik. Das Wort stammt vom griechischen ekleípein und bedeutet „verschwinden“. Warum dieser eigenartige Name gewählt wurde, werden wir bald verstehen. Ziemlich genau 365 Tage und einen Vierteltag benötigt die Sonne, um die Ekliptik zu durchlaufen. Wenn ein Astronom des alten Babylon den Stand der Sonne anvisierte und genau zwölf Stunden später entlang dieser Visierlinie auf das Sternenzelt blickte, wusste er, welches der zwölf Sternzeichen der Sonne genau gegenübersteht.
Unser modernes heliozentrisches Weltbild lehrt, dass nicht die Sonne entlang der Ekliptik läuft, sondern dass sich die Erde im Laufe eines Jahres einmal um die Sonne bewegt. Es sind die verschiedenen Positionen entlang der Erdbahn, die bewirken, dass sich die Sonne entlang der Ekliptik scheinbar vor die Sternzeichen stellt.
Der Mond hingegen umrundet tatsächlich die Erde, und seine Bahn entlang des Sternenzeltes ist ebenfalls eine geschlossene Kreislinie, die er sehr schnell, nämlich innerhalb von 27 Tagen und knapp acht Stunden, einem sogenannten siderischen Monat, durchläuft. Weil aber in dieser Zeitspanne auch die Sonne scheinbar entlang der Ekliptik weitergewandert ist, wird der Mond nach diesem siderischen Monat nicht im gleichen Winkel von der Sonne beleuchtet. Um gegenüber der Sonne wieder die gleiche Position einzunehmen, braucht der Mond ein wenig länger, nämlich den sogenannten synodischen Monat, der ziemlich genau 29 Tage und zwölf Stunden dauert. Nach einem synodischen Monat sieht man den Mond wieder in der gleichen Phase. Die Monate, welche die Astronomen des Zweistromlandes zur Einteilung der Zeit definierten, richteten sich nach diesen Mondphasen: Sie dauerten abwechselnd 29 und 30 Tage. Immer bei Vollmond feierte das Volk des Zweistromlandes seine Götter und pilgerte zu den Tempeln. Man machte sich nicht während des glühend heißen Tages auf den mühsamen Weg, sondern in der angenehm kühlen Nacht. Und um sich nicht zu verlaufen, benötigte man das Licht des Mondes. Auch der jüdische Festkreis ist auf den Vollmond ausgerichtet: Pessach, das Fest, bei dem der Befreiung aus dem ägyptischen Joch gedacht wird, wird am Vollmond des ersten Frühlingsmonats Nissan gefeiert. Und das Osterfest, das sich am jüdischen Pessach orientiert, ist auf den Sonntag danach festgesetzt.
Der Kreis, den der Mond auf dem Himmelszelt durchläuft, führt auch durch die zwölf Sternzeichen des Tierkreises. Er stimmt aber nur fast, nicht genau mit der Ekliptik überein. Fiele die Mondbahn präzise mit der Ekliptik zusammen, erblickten wir bei jedem Neumond eine Sonnenfinsternis, weil sich der Mond, dessen von der Erde abgewandte Seite bei Neumond von der Sonne beschienen wird, direkt vor die Sonne schöbe und sie verdeckte. Und wir erblickten bei jedem Vollmond eine Mondfinsternis, weil zu diesem Zeitpunkt die Erde genau in den Strahl von der Sonne zum Mond träte und ihren Schatten auf den Mond würfe. Weil jedoch die Mondbahn zur Ekliptik in einem Winkel von rund fünf Grad geneigt ist, kommt es bei Neumond nur selten zu einer Sonnenfinsternis und bei Vollmond nur selten zu einer Mondfinsternis.