Marin Mersenne fand ein anderes Rezept. Er zog von Potenzen von 2, also von den Zahlen
22 = 4, 23 = 8, 24 = 16, 25 = 32, 26 = 64, 27 = 128,
28 = 256, 29 = 512, …
immer 1 ab und stellte fest: Nur wenn die Hochzahl eine Primzahl ist, ergibt die Differenz der Zahl 1 von der Zweierpotenz eine Primzahl. In der Tat sind
22 − 1 = 3, 23 − 1 = 7, 25 − 1 = 31, 27 − 1 = 127
lauter Primzahlen. Die Differenz der Zahl 1 von einer Zweierpotenz mit einer Hochzahl, die zusammengesetzt ist, kann keinesfalls Primzahl sein, wie schon die Rechnungen
24 − 1 = 15 = (22 − 1) × (1 + 22) = 3 × 5,
26 − 1 = 63 = (23 − 1) × (1 + 23) = 7 × 9,
28 − 1 = 255 = (24 − 1) × (1 + 24) = 15 × 17,
29 − 1 = 511 = (23 − 1) × (1 + 23 + 26) = 7 × 73
belegen.12 Allerdings erkannte Mersenne, dass sein Rezept nicht immer, sogar nur selten wirkt: Selbst wenn die Hochzahl von 2 eine Primzahl ist, muss die Differenz der Zahl 1 von dieser Zweierpotenz keine Primzahl sein. Zwar stimmt sein Rezept für die Hochzahlen 2, 3, 5 und 7, aber mit der Primzahl 11 als Hochzahl ist auch hier wieder Schluss. Denn 211 − 1 = 2047 ist das Produkt von 23 und 89.
Ganz Schluss aber ist nicht. Mersenne überprüfte, ob sein Rezept vielleicht noch bei anderen Primzahlen als Hochzahlen wirkt. Tatsächlich stellt er fest, dass
213 − 1 = 8191, 217 − 1 = 131 071 und 219 − 1 = 524 287
Primzahlen sind. Er behauptete, dies träfe auch für die Hochzahlen 31, 67, 127 und 257 zu, sonst aber für keine dazwischen. Ein wenig irrte er sich: Nicht 267 − 1, sondern 261 − 1 ist eine Primzahl, auch 289 − 1 und 2107 − 1 sind Primzahlen, dafür ist 2257 − 1 keine Primzahl. Die Hochzahlen unter 500, bei denen die Differenz der Zahl 1 von der entsprechenden Zweierpotenz eine Primzahl liefert, lauten:
2, 3, 5, 7, 13, 17, 19, 31, 61, 89, 107, 127.
Die größte dieser Differenzen, die aus 39 Stellen bestehende Zahl
2127 − 1 = 170 141 183 460 469 231 731 687 303 715 884 105 727,
wurde erst 1876 vom französischen Gymnasiallehrer Edouard Lucas als Primzahl identifiziert. Es ist die größte Primzahl, die jemals mit Hand berechnet wurde.
Erst ab 1950 hat man mit elektronischen Rechnern nach dem Rezept von Mersenne noch größere Primzahlen ermittelt und fand bei über dreißig weiteren Differenzen der Zahl 1 von Zweierpotenzen riesige Primzahlen, darunter welche mit mehr als einem Dutzend Millionen Stellen.
Pierre de Fermat wollte seinen Brieffreund Mersenne in der Suche nach großen Primzahlen übertrumpfen. Er brütete ein anderes Rezept aus, das folgendermaßen lautet: Offenkundig ist 3, die Summe von 1 und 2, eine Primzahl, genauer: die erste ungerade Primzahl. Addiert man zu ihr 2, erhält man wieder eine Primzahl, nämlich 3 + 2 = 5. Nun multiplizierte Fermat diese beiden Primzahlen und addierte wieder 2. Er berechnete also 3 × 5 + 2 und erhielt so 17. Auch dies ist eine Primzahl. Als Nächstes multiplizierte er seine drei so gefundenen Zahlen – ihm zu Ehren werden sie „Fermatsche Zahlen“ genannt – und addierte wieder 2. Jetzt bekam er bereits eine recht große Zahl, nämlich
3 × 5 × 17 + 2 = 257,
und auch sie ist Primzahl. Fermat war von seinem Rezept fasziniert. Er addierte zum Produkt der ersten vier Fermatschen Zahlen 3, 5, 17, 257 die Zahl 2, erhielt die fünfte Fermatsche Zahl
3 × 5 × 17 × 257 + 2 = 65 537
und mühte sich viele Stunden ab, um zu kontrollieren, ob diese Zahl eine Primzahl ist. Sie ist es. Jetzt begann er, an die universelle Gültigkeit seines Rezepts zu glauben. Begeistert schrieb er 1640 in einem Brief an Frenicle de Bessy: „Aber hier ist das, was ich am meisten bewundere: Es ist, dass ich nahezu überzeugt bin, dass die Zahlen13
1 + 2 = 3, 1 × 3 + 2 = 5, 1 × 3 × 5 + 2 = 17,
1 × 3 × 5 × 17 + 2 = 257,
1 × 3 × 5 × 17 × 257 + 2 = 65 537,
1 × 3 × 5 × 17 × 257 × 65 537 + 2 = 4 294 967 297,
und die folgende aus zwanzig Ziffern bestehende Zahl
1 × 3 × 5 × 17 × 257 × 65 537 × 4 294 967 297 + 2 =
18 446 744 073 709 551 617; etc.
Primzahlen sind. Ich habe dafür keinen exakten Beweis, habe aber eine große Anzahl von Teilern durch unfehlbare Beweise ausgeschlossen, und meine Überlegungen beruhen auf einer solch klaren Einsicht, dass ich kaum fehlgehen kann.“
Hier ist sie, die Zahl 4 294 967 297, von der wir zu Beginn des Kapitels ausgegangen sind. Sie ist die sechste Fermatsche Zahl. Selbst heute ist es, wenn einem nur Bleistift und Papier zur Verfügung stehen, allzu zeitraubend zu überprüfen, ob diese Zahl eine Primzahl ist.
Zwei große Zahlen miteinander zu multiplizieren ist leicht. Herauszufinden, aus welchen Teilern eine große Zahl besteht, ist hingegen außerordentlich mühsam. 1732, knapp hundert Jahre nachdem Fermat diesen Brief verfasst hatte, entdeckte der emsige Schweizer Mathematiker Leonhard Euler, dass sich Fermat in seiner Überzeugung irrte: Die sechste Fermatsche Zahl 4 294 967 297 ist durch 641 teilbar.14
Dieser kleine Lapsus schmälert keineswegs Fermats überragendes Talent im Aufspüren von geheimen Gesetzen hinter den Zahlen. Übrigens hat man die weiteren, auf 4 294 967 297 und 18 446 744 073 709 551 617 folgenden Fermatschen Zahlen untersucht und bislang keine weitere Primzahl unter ihnen gefunden. Und da die Fermatschen Zahlen explosionsartig wachsen, sind solche Untersuchungen unerhört subtil.
Lange Zeit war es pures Vergnügen weltfremd versponnener Zahlenliebhaber, sich mit Primzahlen zu beschäftigen. Denn es schien nichts zu geben, wozu Primzahlen gut sein könnten. Sie sind einfach im Zahlenreich vorhanden wie Goldkörner im Schlamm Alaskas, aber das Gold der Primzahlen schien wertlos zu sein.
In den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts stellte sich plötzlich heraus, dass dem nicht so ist. Primzahlen, vor allem große Primzahlen, sind unerhört viel wert, mehr als Gold und Edelstein. Denn sie verhelfen zu ungeahnter Macht. Um das verstehen zu können, müssen wir uns in die düstere Welt der Spione begeben.
Eine Zahl, die aus der Kälte kam
Wir versetzen uns in die Zeit des Kalten Krieges, als aus der Sicht der Geheimdienste die Welt noch „in Ordnung“ war. Die Briten und Amerikaner waren auf der Seite des Westens, die Russen auf der des Ostens, und dazwischen schien für ewig unverrückbar ein Eiserner Vorhang errichtet. Er trennte zwei Welten.
Es war die Zeit des George Smiley, des Helden der frühen Romane von John le Carré, in den BBC-Mehrteilern „Dame, König, As, Spion“ (1979) und „Agent in eigener Sache“ (1982) grandios verkörpert von Sir Alec Guinness, in der brillanten Kinofassung (2011) des erstgenannten Buchs dann von Gary Oldman.
Einst, in den späten Dreißiger- und den Vierzigerjahren, hatte die britische „Intelligence“ – ein besserer Name fiel den Gründern des Geheimdienstes für ihre Firma, die sie später flapsig den „Circus“ nannten, nicht ein – mit George Smiley als einem ihrer besten Agenten noch unzweifelhaft für das Gute gestritten: gegen Hitler und, als nach dessen Untergang die Sowjetunion vom Verbündeten zum Feind wurde, auch gegen Stalin. Doch nun, in den 70er Jahren, verkam in Smileys Augen der einst heroische Kampf zum zynischen Spiel. Die moralisch tönenden Ansprüche, mit denen sich die Agenten über Wasser hielten, klangen zunehmend hohl. „Man muss“, so sagten die Obersten des Circus, „dreckige Dinge tun, um dafür sorgen zu können, dass die Bürger unseres Landes ruhig in ihren Betten schlafen.“ Aber Smiley wusste, dass sie sich damit selbst belogen: um die Schuldgefühle zu unterdrücken, wenn wieder einmal angeworbene Verräter vom Feind enttarnt und an die Wand gestellt wurden. Hin- und hergerissen von peinigenden Gewissensbissen einerseits und der unverbrüchlichen Loyalität andererseits, kündigte er alle 14 Tage mit der festen Absicht, sich zur Ruhe zu setzen und seiner Lieblingsbeschäftigung, der Lektüre von Literatur des deutschen Barock, zu frönen. Um ein paar Tage später, manchmal salbungsvoll von aalglatten Bücklingen aus dem Ministerium gerufen, wieder im Circus aufzukreuzen und erneut für Englands Ehre ins Feindesland, in die Kälte zu gehen.