Aber für ein One-Time-Pad ist das nicht genug. Denn diese eine von Toby Esterhase erzeugte Ziffernfolge, periodisch wiederholt, besitzt ein offensichtlich geordnetes Muster.
Natürlich tut sich der eitle Esterhase die Arbeit des Mischens selber nicht an. Er hat zwanzig Untergebene, die er dazu zwingt, stunden-, tage-, monatelang immer wieder die Karten zu nehmen, sie gründlich zu mischen, eine Karte zu ziehen, die auf ihr stehende Nummer an die Liste der bereits erhaltenen anzufügen, wieder die Karten zu nehmen, noch einmal zu mischen – den ganzen lieben Tag. Toby selbst darf inzwischen Oscar Wilde spielen und der Muße frönen. Er sammelt nur zu Betriebsschluss die zwanzig Listen ein, stapelt sie in einer beliebigen Reihenfolge und verstaut sie im Geheimfach bei den Listen der Vortage.
Fügt jeder der Angestellten Minute für Minute der Liste eine Ziffer hinzu und arbeitet er ohne Unterlass acht Stunden am Tag, bedeutet das für den Angestellten eine Tagesliste, die aus 480 Stellen besteht; insgesamt steckt Esterhase ein aus 9600 Stellen bestehendes Konvolut in den Tresor. Nach zwei Monaten kommt Toby zu Control, dem obersten Herrn des Hauses, dessen wahren Namen keiner in der Firma kennt, und legt ihm seine Zufallsfolge von Ziffern vor, die aus fast 200 000 Stellen besteht. „Für unsere Eierköpfe von der Chiffrierabteilung ist das noch viel zu wenig“, seufzt Control, „wir brauchen eine viel längere Zufallsfolge.“
„Zehnmal mehr Angestellte“, schlägt Toby vor, „dann kann ich in der gleichen Zeit zehnmal mehr liefern.“
„Auch zehnmal mehr wäre nicht genug“, entgegnet ihm säuerlich lächelnd Control, „und wir brauchen die Ziffernfolge außerdem viel schneller. Im Übrigen sollten sich unsere Leute mit etwas Sinnvollerem beschäftigen. Das mit dem dauernden Mischen der Karten ist aus der Mode gekommen. Wir haben darüber auf der obersten Etage diskutiert, und heute kann ich dir die Lösung mitteilen: Die Eierköpfe haben ein Computerprogramm entworfen, das die Arbeit tut, die du, Toby, deine Pudel hast ausführen lassen.“
„Aber Control“, reagiert Esterhase verstört, „woher wollen Sie wissen, dass der Computer die Ziffern wirklich zufällig aufeinanderfolgen lässt? Wie mischt die Maschine die Ziffern?“
„Die Einzelheiten interessieren mich nicht“, brummt Control, „die Eierköpfe versichern mir nur, dass ihnen irgendwelche statistischen Tests zeigen, dass sie gründlich gearbeitet haben. Einmal wird sich ihre Ziffernfolge zwar wiederholen, aber die Periode hat eine Länge, die über 10200 hinausgeht. Das ist weitaus mehr, als wir benötigen. Im Übrigen kommt mir da ein Gedanke: Jetzt, wo wir das Computersystem haben, brauchen wir deine Dienste im Circus nicht mehr. Es ist wohl besser, du ziehst dich ins Privatleben zurück. Vielleicht machst du einen kleinen Laden auf, wo du gutgläubigen Amerikanern falsche Skulpturen von Degas andrehst.“
Das ist natürlich eine erfundene Szene. Aber tatsächlich gibt es – sogar in Hardware, gleichsam fest verdrahtet – sehr effektive Methoden des Durcheinanderwerfens von Ziffern. Sie liefern ohne Aufwand, blitzschnell und fremdem Zugriff entzogen wie vom Zufall erzeugte Ziffernfolgen, die lang genug sind, um für eine Verschlüsselung in der Art eines One-Time-Pad geeignet zu sein. Es macht dabei nichts aus, wenn das Durcheinanderwerfen im Gerät so gestaltet ist, dass die Folge der Ziffern eine periodische Wiederholung besitzt, wenn nur die Länge dieser Periode groß genug ist – Control schwärmt von 10200.
Dennoch entsteht auch die Ziffernfolge, die Control von den Computern in London Station ausgespuckt bekommt, genauso, wie wenn man eine Riesenzahl mit 10200 Stellen durch die Zahl 999 99 … 99, bestehend aus 10200 Neunern, dividiert und die Ziffern nach dem Komma notiert.21
In der Division stecken fast alle Geheimnisse der Welt.
Denken mit Zahlen
Ken Jennings’ und Brad Rutters Debakel
Die beiden Amerikaner Ken Jennings und Brad Rutter gelten als die besten Quizspieler, die je in amerikanischen Fernsehshows aufgetreten sind. 2004 siegte Ken Jennings in der höchst populären Quizsendung Jeopardy unglaubliche vierundsiebzigmal in Folge. Dann aber verlor er gegen Brad Rutter, der dadurch einen höheren Jeopardy-Gesamtgewinn als Jennings verbuchen konnte. Bei der Quizshow Jeopardy können Kandidaten nur mit umfassendem Wissen und schneller Reaktionsfähigkeit gewinnen, vor allem aber müssen sie phantasievoll Begriffe kombinieren können. Die Aufgaben bei Jeopardy prüfen nicht pure Sachkenntnis, sie sind pfiffig und ausgefuchst. Nur Gewiefte finden sofort die Antworten auf Fragen wie zum Beispiel diese: „Was ist das: Unsere höfliche Anerkennung der Ähnlichkeit einer anderen Person mit uns selber?“
„Bewunderung“ wird als Lösungswort erwartet.
In drei vom 14. bis zum 16. Februar 2011 ausgestrahlten Folgen von Jeopardy trat ein geheimnisvoller Watson gegen die Jeopardy-Matadore Ken Jennings und Brad Rutter in den Ring. Watson gewann das Spiel haushoch mit einem Endstand von 77 147 Punkten gegenüber den 24 000 Punkten, die Jennings einheimste, und den 21 600 Punkten, die Rutter ergatterte. Das Preisgeld des Hauptgewinns von einer Million Dollar stellte Watson gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung. Jennings und Rutter kündigten daraufhin an, jeweils die Hälfte ihrer Preise von 300 000 bzw. 200 000 Dollar zu spenden. Wer ist dieser menschenfreundliche Meisterdenker Watson, der den beiden scharfsinnigsten Quizspielern Amerikas eine derart klare Niederlage bereitete? Man bekam ihn bei der Ausstrahlung der Sendung nicht zu Gesicht. Den Platz zwischen Jennings und Rutter nahm nur ein blaues kugeliges Phantom ein. Denn Watson war in einem Nebenraum versteckt. Er wäre für den Kandidatensessel viel zu groß gewesen. Watson ist nämlich kein Mensch, sondern eine Maschine.
Eine Zahlenmaschine.
Es mag sein, dass das Wort „Zahlenmaschine“ ungewohnt klingt. Es ist jedoch treffender als das gebräuchliche Wort „Computer“ oder seine deutsche Übersetzung „Rechenmaschine“ (das lateinische computare bedeutet „rechnen“). Die Maschine Watson beansprucht hingegen, viel mehr als bloß rechnen zu können. Sie gaukelt vor, denken zu können. Was Watsons „Gehirnwindungen“, die von IBM zusammengesetzten Bausteine des „Denkens“, in Wahrheit tun, ist Zahlen zu manipulieren. Nichts anderes.
Im Französischen ist das Wort „Computer“ unbekannt, obwohl „computer“ als Wort im Altfranzösischen existiert. Man spricht in den französischsprachigen Ländern von einem „ordinateur“. Schon in den Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts taucht dieser Begriff zur Bezeichnung desjenigen auf, der für das „Mettre en ordre“, für das „Anordnen“ zuständig ist. Eigentlich keine schlechte Bezeichnung. Wenn man nun bedenkt, dass alles Auflisten und Katalogisieren im Grunde darin besteht, den Dingen Zahlen zuzuweisen, mit denen sie sortiert und eingestuft werden, dürfen wir den „ordinateur“, da er ja eine Maschine bezeichnet, getrost mit „Zahlenmaschine“ ins Deutsche übertragen.
Wie immer es sei: Die Zahlenmaschine Watson überflügelte mit dem von ihr vorgespielten Wissen, mit ihrer Schnelligkeit, mit ihrer scheinbaren intellektuellen Beweglichkeit die spitzfindigsten Menschen. Ein Triumph der Vertreter der „künstlichen Intelligenz“: Pioniere der Informationstheorie wie John McCarthy, Marvin Minsky, Claude Shannon, Allen Newell und Herbert Simon formulierten erstmals 1956 auf einer wegweisenden Konferenz im Dartmouth College die These, dass Denken nichts anderes als Verarbeitung von Information, dass Verarbeitung von Information nichts anderes als Manipulation von Symbolen, dass Manipulation von Symbolen nichts anderes als nachvollziehbarer Umgang mit Zahlen und wenn man so will „Rechnen“ im allgemeinsten Sinn des Wortes sei. Beim Denken komme es auf ein menschliches Wesen nicht an: „Intelligence is mind implemented by any patternable kind of matter“, behaupteten sie. Sinngemäß übertragen: Jede formbare Materie ist als Träger von Denkvorgängen geeignet. Am besten jene Art von Materie, mit der man fast mühelos Bauelemente für zuverlässig funktionierende Strukturen beliebig hoher Komplexität formen kann: elektrische Bauteile wie Widerstände, Kondensatoren, Spulen, Dioden, Transistoren.