All dies war den babylonischen Gelehrten bekannt – das Volk selbst wusste davon nichts.
Mit großer Präzision vermaßen die Astronomen die Bahn des Mondes von ihren Zikkuraten aus, den gestuften Tempeltürmen, die sie nicht nur über den Dunst der Stadt, sondern auch über das gemeine Volk erhoben. Zur einen Hälfte liegt die Mondbahn über der Ekliptik, zur anderen Hälfte liegt sie unter ihr. An zwei diametral gegenüberliegenden Stellen auf der Himmelskugel schneidet die Mondbahn die Ekliptik. Diese zwei Punkte auf der Ekliptik heißen die Knoten der Mondbahn. Die babylonischen Gelehrten nannten sie den „Drachenkopf“ und den „Drachenschwanz“.
Denn, so erzählten die Gelehrten ihren staunenden Zuhörern, auf dem Himmelszelt haust der geheimnisvolle Drache Tiamat. Wo sein Kopf lauert, beginnt die Mondbahn sich über die Ekliptik zu heben. Wo auf der Gegenseite der Himmelskuppel sein Schwanz ist, stößt die Mondbahn wieder auf die Ekliptik und sinkt unter sie. Und manchmal, zu einer Zeit, die nur die Götter kennen, verschlingt der Drache mit seinem Kopf die Sonne. Oder der Drache schnürt mit seinem Schwanz die Sonne ein.
Angsterfüllt fragten die Zuhörer die gelehrten Priester: „Was geschieht, wenn der Drache mit seinem Maul die Sonne verschlingt, wenn sein Schwanz die Sonne erdrückt?“
„Die Sonne verschwindet, Finsternis bedroht uns“, antworteten die Priester.
„Und wann wird dies geschehen?“
„Wir müssen die Götter befragen, vielleicht geben sie uns die Antwort. Und wenn Ihr ihnen ein gefälliges Opfer darbietet, werden die Götter den Drachen bezwingen, so dass er die Sonne wieder freilässt und sie weiter auf uns scheinen kann.“
Abb. 1: Von der Erde aus gesehen scheint die Sonne während des Jahres eine durch die Tierkreiszeichen führende Bahn entlang der Himmelskugel zu ziehen, welche die Ekliptik heißt. Die scheinbare Mondbahn entlang der Himmelskugel ist zur Ekliptik ungefähr 5 Grad geneigt und wird vom Mond in einem (siderischen) Monat durchlaufen. Die Schnittpunkte der scheinbaren Mondbahn mit der Ekliptik heißen die Mondknoten Drachenkopf und Drachenschwanz. Nur wenn Sonne und Mond auf der Geraden vom Drachenschwanz zum Drachenkopf liegen, ereignen sich Finsternisse: Sind dabei Sonne und Mond auf gegenüberliegenden Seiten der Erde, erlebt man eine Mondfinsternis. Sind hingegen Sonne und Mond vor der Erde auf dem Sehstrahl des Beobachters zum Mondknoten, erlebt der Beobachter eine Sonnenfinsternis.
Aber statt die Götter zu befragen, beobachteten die Gelehrten mit ihren Visiergeräten haargenau den Mond: Präzise maßen sie die Zeitspannen, die der Mond auf seiner Himmelsbahn benötigt, um vom Drachenkopf zum Drachenschwanz und vom Drachenschwanz wieder zurück zum Drachenkopf zu gelangen. Ein voller Durchlauf ist ein klein wenig kürzer als der siderische Monat. Lange Listen dieser Zeitspannen dürften die Gelehrten angelegt haben. Denn sie verrieten ihnen, was sie dem Volk als Botschaft der Götter verkündeten: Nur wenn sich der Mond in einem der beiden Knotenpunkte befindet, kann sich eine Finsternis ereignen. Doch zugleich muss entweder Vollmond oder aber Neumond herrschen. Dafür ist die Zeitspanne von einem Vollmond zum nächsten maßgeblich, der den Astronomen Babylons wohlbekannte synodische Monat. Mit diesem Wissen konnten die Gelehrten Babylons Sonnenfinsternisse vorausberechnen: Sie finden nur dann statt, wenn sich der Neumond im Drachenkopf oder im Drachenschwanz befindet. Sie können zuweilen sehr lange auf sich warten lassen. Von einer totalen oder ringförmigen Sonnenfinsternis bis zur nächsten über einem bestimmten Ort der Erde muss man im Schnitt 140 Jahre ausharren. So selten dieses Ereignis ist, so faszinierend ist es – und für Menschen, die es sich nicht erklären können, erschreckend.
Am 4. Juli 587 v. Chr. herrschte Vollmond, und zusammen mit vielen anderen beobachtete der griechische Philosoph Thales von Milet in dieser Nacht eine Mondfinsternis. Irgendwie ist es Thales gelungen, den babylonischen Gelehrten das Zahlengeheimnis des Drachen Tiamat zu entlocken: 23 Monate und einen halben Monat später, so verrieten sie ihm, werde der Neumond, nachdem er bereits fünfundzwanzig Mal durch den Drachenkopf und fünfundzwanzig Mal durch den Drachenschwanz gelaufen sein wird, sich zusammen mit der Sonne im gegenüberliegenden Mondknoten befinden und dort eine Sonnenfinsternis hervorrufen. Jetzt brauchte Thales nur mehr zu rechnen: 23 ½ synodische Monate sind 693 Tage, um 37 Tage weniger als zwei Jahre. Folglich wird die Sonnenfinsternis 37 Tage vor dem 4. Juli 585 v. Chr., also 33 Tage vor dem 30. Juni 585 v. Chr., folglich am 28. Mai 585 v. Chr. stattfinden.
Man stelle sich vor: Ein babylonischer Priester spricht zu seinem Volk und sagt:
„Morgen wird der Drache Tiamat die hell leuchtende Sonne mit seinem Maul verschlingen. Schwärze wird sie umhüllen, der Himmel sich verfinstern, Dämmerung einbrechen, Düsternis herrschen. Aber wir haben zu den Göttern gebetet. Die Götter werden dem Drachen gebieten, die Sonne wieder freizulassen. Preist die Götter und bringt in den Tempeln Eure Opfer dar!“
Am nächsten Tag geht kein Bürger Babylons in Ruhe seiner Arbeit nach, alle starren gebannt in den Himmel. Und wirklich: Die Sonne verfinstert sich, wie es der Priester verkündete, und nach Minuten der Düsternis tritt sie wieder aus dem unheimlichen Schatten hervor. Für sein weiteres Dasein und das Dasein seiner Kinder und Kindeskinder hat der Priester mit der Erfüllung seiner Prophezeiung ausgesorgt. Keiner der Babylonier würde es wagen, an seiner Autorität zu zweifeln.
In Wahrheit steckt hinter seiner Vorhersagekraft nichts anderes als Rechenfertigkeit mit großen Zahlen.
Der Legende nach soll Thales tatsächlich die Sonnenfinsternis des 28. Mai 585 v. Chr. vorhergesagt haben. Aber er beförderte nicht mehr wie die Gelehrten Babylons den Aberglauben, sondern bekundete erstmals, dass er sein Wissen dem Vermögen verdankte, mit großen Zahlen rechnen zu können. Es sind nüchterne Zahlen, die sich hinter der magischen Geschichte des Drachen Tiamat verbergen. Allerdings so große Zahlen, dass sie dem lese- und rechenunkundigen Volk unverständlich blieben.
Zahl und Schrift
Mit Zahlen umgehen zu können, war in alter Zeit das Tor zu einem reichen und sorgenfreien Leben. Ägyptische Vermessungsbeamte hatten bereits einen wichtigen Schritt zu diesem Ziel getan: Sie konnten mit Zahlen hantieren, die über ein Dutzend hinausgingen und bei einigen Hundert endeten. So weit musste man rechnen können, um den Bauern die Felder nach den Anzahlen der Klafter, die diese Felder lang und breit waren, zuteilen zu können. Auch um die Getreidesäcke zählen zu können, welche die Bauern ablieferten. Und die Ochsenkarren, die das Getreide zu den Kornkammern lieferten. Aber ein wirklich großes Lebensziel hatte jener Beamte und Schreiber des alten Ägypten erreicht, der sogar über mehrere Hundert, ja über tausend hinaus zu zählen und zu rechnen verstand. Dann durfte er erwarten, einmal in den Hof des Allerhöchsten, zum Pharao, vorgelassen zu werden.
Das Zählen der Ägypter, aber auch das der anderen frühen Hochkulturen, das der Babylonier, der Mayas, der Chinesen, endete im Allgemeinen in Größenordnungen von ein paar Tausend. Beamte und Händler brauchten im alltäglichen Geschäft damals – ganz im Unterschied zu heute – nicht an Millionenbeträge zu denken. Und wenn wirklich im wahrsten Sinne des Wortes Unsummen zu bewältigen waren, bündelten die Rechenmeister bestimmte Mengen zu neuen Einheiten. So wie wir es auch heute noch tun, wenn wir von Dutzenden sprechen, große Entfernungen in Kilometern und nicht in Metern, große Massen in Tonnen und nicht in Gramm messen.