David Gelernter: „Das Gehirn ist radikal anders als ein Computer. Der Computer ist eine rein elektronische Maschine, die aus Halbleitern und anderem Krimskrams besteht. Ich glaube, dass es tatsächlich möglich ist, eine kreative Maschine zu bauen, wahrscheinlich sogar eine Maschine, die halluzinieren könnte. Aber sie würde uns in keiner Weise gleichen. Sie wäre immer eine Täuschung, eine Fassade. Es ist vollkommen plausibel, dass etwa das Modell ,Watson 2050‘ einen Poesiewettbewerb gewinnt. Es wird womöglich ein wundervolles Sonett schreiben, das ich schön und bewegend finde und das weltberühmt wird. Aber würde das bedeuten, dass Watson einen Verstand hat, eine Idee von sich selbst? Natürlich nicht. Da ist niemand zu Hause. Da ist nichts drin.“
Ein wenig erinnert David Gelernters Skepsis an die Erkenntnis Blaise Pascals, dass wir nicht bloß nach den Gesetzen der formalen Logik, sondern vor allem „mit dem Herzen“ denken: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas“, „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“.
Und doch vermeinen Minsky oder Moravec in der hinreichend komplex konstruierten Zahlenmaschine so etwas wie echtes Denken zu finden. Haben sie recht oder nicht? Zur Beantwortung dieser Frage schlug der britische Mathematiker und Logiker Alan Turing bereits im Jahre 1950 vor, einen Test durchzuführen: Im Zuge des nach Turing benannten Tests führt ein menschlicher Fragesteller über eine Tastatur und einen Bildschirm ohne Sicht- und Hörkontakt mit zwei ihm unbekannten Gesprächspartnern ein Gespräch. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Beide versuchen den Fragesteller davon zu überzeugen, dass sie denkende Wesen sind. Wenn der Fragesteller nach der intensiven Befragung nicht klar sagen kann, welcher von beiden die Maschine ist, hat diese den Turing-Test bestanden.
1966 entwickelte Joseph Weizenbaum, Computerpionier am Massachusetts Institute of Technology, ELIZA, ein Programm benannt in Anspielung auf Shaws Pygmalion, das die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen einem Menschen und der Zahlenmaschine über natürliche Sprache aufzeigen sollte. ELIZA arbeitet nach dem Prinzip, Aussagen des menschlichen Gesprächspartners in Fragen umzuformulieren und so eine Reaktion zu simulieren. Es dient als mechanischer Ersatz für einen Psychotherapeuten. Sagt der Patient zum Beispieclass="underline" „Ich habe ein Problem mit meinem Auto“, antwortet ELIZA: „Warum haben Sie ein Problem mit Ihrem Auto?“ Klagt eine Patientin: „Ich habe ein Problem mit meinem Vater“, geht ELIZA mit den Worten „Erzählen Sie mir mehr über Ihre Familie!“ darauf ein. In diesem zweiten Beispiel hatte das Programm analysiert, dass „Vater“ zu „Familie“ gehört, und entsprechend „intelligent“ reagiert.
ELIZA als Psychotherapeuten zu konzipieren, begründete Weizenbaum damit, dass es einem solchen Gesprächspartner erlaubt ist, keinerlei Wissen über die Welt zeigen zu müssen, ohne dass dadurch seine Glaubwürdigkeit verloren geht. Weizenbaum verdeutlichte dies anhand eines Beispiels: Wenn der menschliche Gesprächspartner den Satz „Ich bin mit dem Boot gefahren“ äußert, und die Zahlenmaschine antwortet darauf „Erzählen Sie mir etwas über Boote“, wird der Mensch nicht annehmen, dass sein Gesprächspartner kein Wissen über Boote besitzt.
Versuchspersonen, die mit ELIZA kommunizierten, verhielten sich dann auch so, als wenn sie es mit einem menschlichen Gesprächspartner zu tun hatten. Offensichtlich war es ihnen nicht allzu wichtig, ob der Antwortende am anderen Ende der Leitung wirklich ein Mensch war oder eine Maschine. Es kam nur darauf an, dass die Antworten und Fragen menschlich erschienen. Die Versuchspersonen in den Experimenten waren zu einem großen Teil sogar davon überzeugt, dass der „Gesprächspartner“ ein tatsächliches Verständnis für ihre Probleme aufbrachte. Selbst wenn sie mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass sie mit einer Zahlenmaschine „gesprochen“ hatten, die auf der Basis einiger simpler Regeln und sicherlich ohne „Intelligenz“, „Verstand“ und „Einfühlungsvermögen“ einfach gegebene Aussagen in Fragen umwandelte, weigerten sie sich oft, dies zu akzeptieren. Einige meinten sogar: „Die Maschine versteht mich besser als mein menschlicher Psychiater!“
Weizenbaum war erschüttert über die Reaktionen auf sein Programm. Noch mehr verstörte ihn, dass praktizierende Psychiater ernsthaft daran glaubten, damit zu einer automatisierten Form der Psychotherapie gelangen zu können. Er mutierte nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen zu einem der geistreichsten und vehementesten Kritiker der unreflektierten Technologie der „künstlichen Intelligenz“.
Das Erschütternde nämlich ist: Die Zahlenmaschine vermag das Bild des Menschen selbst zu ändern. Die Heimtücke im Turing-Test besteht darin, dass wir die Frage, ob die Zahlenmaschine menschlich zu denken vermag – also in einem gewissen Sinn dem Ziel seines Erfinders gemäß einwandfrei funktioniert –, auch umdrehen können: Besteht der Mensch den Turing-Test? Funktioniert auch er einwandfrei – oder hat man diejenigen Menschen, die nicht den Anforderungen der Zahlenmaschine entsprechen, die noch an Pascals „raison du cœur“, an das „Denken des Herzens“ glauben, zu entsorgen? Dies ist keine Übertreibung, derart atemberaubende Gedanken werden ernsthaft von den Propheten der „künstlichen Intelligenz“ wie Marvin Minsky oder Hans Moravec erwogen. „Wenn wir Glück haben, werden uns die Roboter als Haustiere behalten“, behauptet zum Beispiel Minsky.
Und er meint es nicht als Scherz.
Der Anspruch auf Allwissenheit
Ein Gigant aus Göttingen
Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Wenn man fragt, was Biologie sei, fällt die Antwort leichter: Es ist die Wissenschaft, welche mit den Methoden der Beobachtung und des Experiments alle Formen des Lebens untersucht. Auch die Mathematik ist eine Wissenschaft. Aber worauf beruht ihre Methode? Und was ist ihr Gegenstand?
Bei der Methode der Mathematik scheint es ziemlich klar: Es ist die Logik. Oder das Denken. Manche meinen, das sei das Gleiche. Begründungen mathematischer Aussagen jedenfalls müssen logisch einwandfrei sein. Verbirgt sich in einer Argumentationskette für den Nachweis einer Formel ein Denkfehler oder eine Lücke, die sich nicht schließen lässt, ist der angebliche Beweis nichts wert. Selbst wenn ihn eine mathematische Koryphäe vorträgt. Selbst wenn sich die Formel in Anwendungen hundertfach bewährt hat.
Anhand eines Beispiels aus dem Fundus der Mathematikgeschichte versteht man am besten, warum sich die Gemeinschaft der Mathematikerinnen und Mathematiker gar nicht darüber einig ist, wie sehr man sich auf die Logik verlassen darf. Und ob die Logik wirklich das Denken umfasst. Die Pointe der Geschichte schließlich ist, dass wohl bis zum Ende aller Tage völlig unklar bleiben wird, was die Mathematik wirklich zu leisten vermag.
Die Geschichte besteht aus zwei Teilen, den beiden letzten Kapiteln dieses Buches. In ihrem ersten Teil berichtet sie vom bedeutendsten deutschsprachigen Mathematiker um 1900, von David Hilbert, und sie erzählt von seiner Devise, um die sich die ganze Geschichte rankt. Im zweiten Teil der Geschichte erfahren wir, welches Geschick denen widerfahren ist, die sich Hilberts Leitspruch anschlossen, und jenen, die Hilberts Parole zu folgen nicht bereit waren.
Um 1900 kannte die mathematische Welt zwei Zentren: Göttingen in Deutschland und Paris in Frankreich.
Der eminenteste Göttinger Mathematiker war in dieser Zeit David Hilbert. Er leistete nicht nur selbst in allen Gebieten der Mathematik Pionierarbeit, er scharte auch eine große Runde höchst begabter junger Menschen aus aller Herren Länder um sich, die er zur Mathematik zu verführen verstand: den Russen Sergej Bernstein, der eigentlich in Paris studierte, die Amerikanerin Anne Bosworth, die von der Universität Chicago nach Göttingen gekommen war, den Italiener Ugo Napoleone Giuseppe Broggi, der später an der Universität von Buenos Aires wirkte, den Österreicher Paul Georg Funk, der nach seiner Studienzeit in der Tschechoslowakei und nach für ihn bitteren Jahren im „Dritten Reich“ schließlich an der Technischen Universität Wien lehrte, die Russin Nadjeschda Gernet, später ein Opfer in dem von den Nazis fast vollständig ausgehungerten Leningrad, dem früheren und späteren Sankt Petersburg, den Rumänen Alexandru Myller, der an der Universität von Iaşi einen Schwerpunkt der Mathematik in Rumänien setzte, den Polen Hugo Steinhaus, der in Lemberg, dem späteren Lwów, eine nach dem Ort benannte Schule der polnischen Mathematik begründete, den Japaner Teiji Takagi, der nach Tokio zurückkehrte und durch seine Forschung und Lehre seine Heimat für die moderne Mathematik öffnete – die Genannten sind nur ein paar von Dutzenden.