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Unbedingt hervorgehoben werden muss Emmy Noether. Eigentlich war sie keine Schülerin Hilberts, sie promovierte bei Paul Gordan in Erlangen, wo ihr Vater Max Noether Mathematik lehrte. Ihr Doktorvater Gordan war Mathematiker der alten Schule: Nicht abstraktes Denken, sondern kompliziertes Rechnen stand bei ihm im Vordergrund. Als er erfuhr, dass in seinem eigenen Spezialgebiet, der sogenannten Invariantentheorie, Hilbert eine Reihe seiner nach mühevollem Rechnen erhaltenen Ergebnisse von einem völlig abstrakten Standpunkt aus ohne Beleg durch Rechnungen in einem Zuge herzuleiten verstand, beschwerte er sich bitter: „Das ist nicht Mathematik, das ist Theologie!“, soll er geschimpft haben. Emmy Noether hingegen erkannte richtungsweisend Neues in Hilberts Denken und schlug sich sofort auf seine Seite. Hilbert und sein väterlicher Freund Felix Klein versuchten, in ihrer Universität für Noether eine Stelle als Forscherin zu schaffen. Sie zog tatsächlich nach Göttingen. Allerdings schlugen ihr vonseiten konservativer Professoren Missachtung und Ablehnung entgegen und blieb ihr, obwohl sie zweifellos hochqualifiziert war, beinahe die Universitätskarriere versagt. Sie konnte jahrelang ihre Vorlesungen nur unter Hilberts Namen ankündigen. Als einige Professoren Noethers Anwesenheit an der Universität bekämpften – nicht weil sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, sondern nur, weil die Männer unter sich bleiben wollten –, empörte sich Hilbert: „Meine Herren, eine Fakultät ist doch keine Badeanstalt!“

Der wohl tiefste Denker unter den Mathematikern des 20. Jahrhunderts, Hermann Weyl, beschrieb im Nachruf auf seinen ehemaligen Lehrer Hilbert, wie er von ihm zur Mathematik gelockt worden war (dies ist die Übertragung des englischen Textes ins Deutsche; Weyl hatte 1933 aus Abscheu vor Hitler Deutschland den Rücken gekehrt): „Noch höre ich das Echo vom süßen Tone des Verführers, der Hilbert war und der alle, die ihm begegneten, unwiderstehlich in den Bann der Mathematik zog. Wer nach Beispielen fragt, dem antworte ich mit meiner eigenen Geschichte. Ich fuhr mit 18 als junger Mann vom Lande nach Göttingen. Die Universität wählte ich eigentlich nur, weil der Direktor meiner Schule ein Cousin Hilberts war und mich mit einem Empfehlungsschreiben an ihn ausstattete. Bedenkenlos, ja völlig naiv nahm ich es mir heraus, gerade jenen Kurs zu belegen, den Hilbert in diesem Semester ankündigte: über den Zahlbegriff und die Quadratur des Kreises. Das meiste, was ich dort hörte, war für mich schlicht zu hoch. Aber ich fühlte, dass mir dort die Türen zu einer neuen Welt geöffnet wurden. Nicht lange saß ich zu Hilberts Füßen, da fasste ich beherzt den Entschluss, ich müsse unbedingt alles lesen und studieren, was dieser Mann geschrieben hatte. Nach dem ersten Jahr bin ich mit Hilberts Zahlbericht unter dem Arm nach Hause gereist, und während der Sommerferien habe ich mich mit aller Kraft darin vertieft – ohne dass ich irgendwelche Vorkenntnisse in elementarer Zahlentheorie oder in Galoistheorie hatte. Es waren die glücklichsten Monate meines ganzen Lebens, deren Erinnerung für mich so tröstlich ist, dass weder Zweifel noch Enttäuschungen, die uns allen im Laufe unserer Jahre widerfahren, ihr etwas anhaben können.“

Kein „Ignorabimus“

Wenn der durch und durch selbstbewusste Hilbert von etwas überzeugt war, dann von der grenzenlosen Kraft seiner Wissenschaft. Im Jahre 1930, am Ende seines Wirkens als Professor in Göttingen, hielt er eine Ansprache für das damals neue Radio. Man kann sich lebhaft ausmalen, wie der schon ergraute und von seinen Kollegen verehrte Herr Geheimrat vor das Mikrofon gesetzt und ihm erklärt wurde, dass nun Tausende an den Geräten seiner Stimme lauschen würden. In seinem ostpreußischen Akzent deklamierte er möglichst deutlich Wort für Wort die nachfolgende Rede:

„Das Instrument, welches die Vermittlung bewirkt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Beobachten, ist die Mathematik. Sie baut die verbindende Brücke und gestaltet sie immer tragfähiger. Daher kommt es, dass unsere ganze gegenwärtige Kultur, soweit sie auf der geistigen Durchdringung und Dienstbarmachung der Natur beruht, ihre Grundlage in der Mathematik findet.

Schon Galilei sagt: Die Natur kann nur der verstehen, der ihre Sprache und die Zeichen kennengelernt hat, in der sie zu uns redet. Diese Sprache aber ist die Mathematik, und ihre Zeichen sind die mathematischen Figuren.

Kant tat den Ausspruch: ,Ich behaupte, dass in jeder besonderen Naturwissenschaft nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik enthalten ist.‘“

Nach einigen weiteren Zitaten, mit denen Hilbert die Bedeutung der Mathematik beschwört,26 endet seine Radioansprache mit den Worten:

„Wir dürfen nicht denen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für uns gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaft überhaupt nicht. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Losung:

Wir müssen wissen, wir werden wissen.

Uns Heutigen sind diese abschließenden Worte schwer verständlich. Von wem spricht Hilbert, wenn er auf Propheten des Kulturuntergangs anspielt, die „sich in dem Ignorabimus gefallen“?

Um dies beantworten zu können, muss man bis zum Jahr 1872 zurückblicken: auf eine Rede des hervorragenden Physiologen Emil Heinrich du Bois-Reymond, mit der er die damalige Gelehrtenwelt in Erstaunen, ja in blankes Entsetzen versetzt hatte. Du Bois-Reymond war als entschiedener Verfechter des Darwinismus bekannt, er vertrat vehement die Meinung, die Naturwissenschaft sei das „absolute Organ der Cultur“ und das einzige menschliche Bestreben, das vorankommt. Im Gegensatz dazu seien die anderen Kulturgüter wie Politik, Kunst und Religion letztlich wertlos. Eben dieser du Bois-Reymond, der die Naturwissenschaft verherrlichte und in der Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit erblickte, behauptete anlässlich der Tagung der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ in Leipzig, es gäbe „Grenzen des Naturerkennens“. Nie, so meinte er, werde man wissen, was Materie und Kraft seien, nie das bewusste Empfinden in den unbewussten Nerven zu orten vermögen, nie den Ursprung des Denkens und der Sprache ergründen, nie begreifen, woher der freie, sich zum Guten verpflichtende Wille stamme. „Ignoramus et ignorabimus“, ruft er seinen Kollegen zu: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen.“

Über Jahrzehnte hinweg war David Hilbert als einem von vielen das „Ignorabimus“ ein Dorn im Auge. Schon zu Beginn seiner Radioansprache verdeutlichte er seine Haltung gegen den Skeptizismus des du Bois-Reymond: Wer Mathematik betreibt, so beteuert Hilbert steif und fest, werde letztlich jedes „Ignorabimus“ zu Fall bringen. Habe doch die Naturwissenschaft seit Galilei diesen unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Vor Isaac Newton glaubten die Menschen, die Wandelsterne am Himmel werden von den Flügelschlägen der Engel Gottes angetrieben – ein wunderbares poetisches Bild. Die mathematische Physik Newtons zerbrach es. Die Bewegungen aller Himmelskörper folgen, so Newton, Gleichungen. Gäbe es nur zwei Himmelskörper im ganzen Universum, führten die Lösungen dieser Gleichungen zu den Gesetzen, die Galileis Zeitgenosse Johannes Kepler aus seinen Messungen und Berechnungen entnommen hatte. Bei den unzählig vielen Himmelskörpern, die im Universum hausen, ist es sowohl für Menschen als auch für Rechenmaschinen aussichtslos, den Gleichungen Newtons die exakten Lösungen entlocken zu wollen. Aber nur Mathematik und nicht mehr, davon sind die Astronomen überzeugt, liegt dem Geschehen im Weltall zugrunde.