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Pierre Simon Laplace übertrug diesen Gedanken auf die Bewegungen aller Atome des Universums. Damit sei alles in unserer Welt, vom Flügelschlag des Insekts über den Ausbruch des Vesuvs bis hin zum Zerbersten eines Sterns als Supernova, von Gleichungen bestimmt. Nichts gebe es, wo nicht die Mathematik letztlich das Spiel in ihren Händen hielte. Auch wenn die Relativitäts- und die Quantentheorie die Gleichungen Newtons korrigierten, am Prinzip dieser Aussage ändere dies nichts. In der Quantentheorie wird ein physikalisches System, sei es ein Atom, ein DNS-Molekül, eine Katze in einer Kiste, eine Wolke, was auch immer, mit dem geheimnisvollen griechischen Buchstaben ψ, psi, beschrieben. Er symbolisiert den sogenannten Zustand des Systems. Dieses ψ enthält alle Informationen, die dem System zu eigen sind. Und ψ ist nichts und niemand anderem als der Mathematik unterworfen. Denn ψ gehorcht einer mathematischen Gleichung, die nach Erwin Schrödinger27 benannt ist.

Folglich durchdringt die Mathematik tatsächlich alles. Und sie selbst, davon war das mathematische Genie Hilbert felsenfest überzeugt, widerlegt du Bois-Reymond. Pathetisch formulierte Hilbert seinen Leitspruch:

„In uns schallt der ewige Ruf: Hier ist das Problem. Suche nach einer Lösung! Du findest sie durch reine Überlegung, denn in der Mathematik gibt es kein ,Ignoramus et ignorabimus‘.“

Hilbert verbannt das geometrische Empfinden

Schon vor 1900 zeigte Hilbert der erstaunten Fachwelt, wie es der Mathematik gelingt, Phänomenen der Wirklichkeit Herr zu werden.

Seitdem Euklid im 3. vorchristlichen Jahrhundert ein Buch über die Geometrie verfasst hatte, das noch zu Hilberts Tagen in den höheren Schulen als mathematisches Lehrbuch diente, waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts alle Gelehrten davon überzeugt, von etwas Handfestem zu sprechen, wenn von „Punkten“, „Strecken“, „Kreisen“, „Dreiecken“ oder „Quadraten“ die Rede ist. Und es gibt ein Werkzeug, mit dessen Hilfe diese Gegenstände konstruiert werden: Zirkel und Lineal. Liegen zwei voneinander verschiedene Punkte in der Zeichenebene vor, ist es klar, wie man an sie das Lineal anlegt und durch sie jene Gerade zeichnet, welche die beiden Punkte trägt. Und es ist klar, wie man den Zirkel in den ersten der beiden Punkte einsticht, ihn so weit öffnet, dass er bis zum zweiten der beiden Punkte gespannt ist, und danach den Kreis mit dem ersten Punkt als Mittelpunkt zieht, der durch den zweiten der beiden Punkte verläuft.

Wie aber konstruiert man zu einem gegebenen Kreis jenes Quadrat, dessen Flächeninhalt mit dem des Kreises übereinstimmt? Dies ist die berühmte Frage nach der „Quadratur des Kreises“, die so gerne als Metapher herhalten muss.

Hilbert „löst“ die Quadratur des Kreises, indem er dieses Problem unter zwei Gesichtspunkten betrachtet.

Einerseits unter dem Gesichtspunkt der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel. Hier kann Hilbert auf eine Arbeit seines ehemaligen Königsberger Lehrers und ab 1893 in München wirkenden Professors Ferdinand von Lindemann verweisen, der ein für alle Mal bewiesen hatte:

Mit Zirkel und Lineal allein kann die exakte Quadratur des Kreises nie gelingen.

Der Satz von Lindemann widerspricht, trotz seiner negativen Aussage, ganz und gar nicht der Losung Hilberts, dass die Mathematik kein „Ignorabimus“ akzeptiert. Dieser Satz teilt uns vielmehr ein Wissen mit, nämlich das Wissen darüber, dass etwas sicher unmöglich ist. Genauso unmöglich, wie dass fünf eine gerade Zahl ist.

Andererseits aber betrachtet Hilbert die Quadratur des Kreises unter dem Gesichtspunkt der Objekte „Kreis“ und „Quadrat“ als solche. So betrachtet ist es naheliegend, dass es zu jedem Kreis ein flächengleiches Quadrat gibt. Schon 1685 hatte der polnische Mathematiker Adam Kochanski eine sehr raffinierte Konstruktion allein mit Zirkel und Lineal als Hilfsmittel erfunden, die aus dem Kreis ein fast flächengleiches Quadrat bildet: Die Dicke des Bleistifts, die Rauheit des Papiers, die Unschärfe des menschlichen Augenlichts lassen es nicht zu, den Unterschied zwischen dem von Kochanski konstruierten Quadrat und dem exakten Quadrat wahrzunehmen – so nahe kommt Kochanski mit seiner Konstruktion dem Ideal – das es geben muss, so lautet der naheliegende Schluss. Auch wenn Kochanski es nicht in letzter Exaktheit zu zeichnen vermochte. Wenigstens in Gedanken existiert es.

Dies ist die entscheidende Idee, die Hilbert bewegt: Die Objekte der Geometrie sind nicht in ihrer sinnlichen Erfassung vorhanden, sie sind deshalb manifest, weil wir sie zu denken vermögen. Das sinnliche Bild auf dem Zeichenpapier ist bloß ein Abglanz. Ähnlich dachte bereits Platon: Nicht das auf dem Papier konstruierte, sondern das im Gedanken gebildete Dreieck ist das „wahre“ Dreieck. Denn nur das gedachte Dreieck kann mit seinem Ideal übereinstimmen.

Darum schneiden einander zwei Geraden, die nicht parallel sind, auch dann, wenn das Blatt Papier zu klein ist, um den Schnittpunkt zeigen zu können. Denn in Gedanken existiert er. Und was ist mit parallelen Geraden? Darf man auch bei ihnen von einem Schnittpunkt sprechen? Augenscheinlich ist er sicher nicht, denn wenn es ihn gibt, dann liegt er im Unendlichen. Doch ist es erlaubt, den Schnittpunkt paralleler Geraden im Unendlichen zu denken? Wie denkt man das Unendliche?

Überlegungen und Fragen dieser Art veranlassten Hilbert, die Denkgesetze der Geometrie systematisch zu ordnen. Er verfuhr dabei ähnlich wie einst Euklid vor mehr als zwei Jahrtausenden: An die Spitze seiner Geometrie stellte Hilbert „Axiome“, Behauptungen, die uneingeschränkt zu akzeptieren sind, wenn man Geometrie betreiben will. So lautet das erste in der Liste seiner zwanzig Axiome: „Zwei voneinander verschiedene Punkte bestimmen stets eine Gerade, auf der sie liegen.“ Gleich darauf folgt als zweites Axiom: „Irgend zwei voneinander verschiedene Punkte einer Geraden bestimmen diese Gerade.“ Und als drittes Axiom formuliert Hilbert die Behauptung: „Auf einer Geraden gibt es stets wenigstens zwei Punkte, in einer Ebene gibt es stets wenigstens drei nicht auf einer Geraden gelegene Punkte.“

Bei jedem der Axiome Hilberts zeigt eine grobe Skizze, dass hier ein augenscheinlich wahrer Sachverhalt mitgeteilt wird – mancher von ihnen so banal, dass man sich fragt, warum so etwas Vordergründiges überhaupt einer Erwähnung bedarf. Hilberts Antwort darauf lautet: Man solle sich nicht durch den sinnlichen Eindruck verführen lassen! In der Geometrie, wie Hilbert sie sieht, spielt der manifeste Sinneseindruck nur eine begleitende, keinesfalls aber eine bestimmende Rolle. Bei geometrischen Behauptungen wird der Beweis einzig und allein dadurch geführt, dass eine logische Rückführung dieser Behauptung auf die zu Beginn genannten zwanzig Axiome gelingt. Alles andere zählt nicht.

„Aber Sie beschreiben doch Punkte, Geraden und Ebenen, so wie sie sind; warum zählt das in Ihren Augen nicht?“, könnte ein skeptischer Einwand an Hilbert gerichtet werden.

„Das ist schön“, würde Hilbert dem Fragenden antworten, „dass Sie Punkte, Geraden und Ebenen genauso empfinden, wie ich es in den Axiomen beschreibe. Aber ich verlange von keinem, der Geometrie betreibt, dass er die richtige ,Empfindung‘ dafür hat, worum es sich bei einem Punkt, einer Geraden oder einer Ebene handelt. Man könnte diese Worte durch irgendwelche Fremdworte einer exotischen Sprache ersetzen.28 Anders gesagt: Auf das Wesen dessen, was ein Punkt, eine Gerade oder eine Ebene ist, kommt es mir überhaupt nicht an. Sondern nur darauf, dass all das, was Punkt, Gerade oder Ebene genannt wird, meinen Axiomen gehorcht. Das allein genügt.“