Oder – und dies dürfte des Pudels Kern sein – ist diese Schilderung schon so skurril, dass die Frage jeder Bedeutung entbehrt? Sprengt dieses Beispiel das sinnvolle Sprechen über das Unendliche?
Ein unendliches Frage- und Antwortspiel
Ein letztes Paradoxon sei noch geschildert. Zum besseren Verständnis bereiten wir es so vor, dass wir uns zunächst mit dem keineswegs paradoxen endlichen Fall beschäftigen: Ein Reisebüroleiter kommt zur Direktorin von Hilberts Hotel und kündigt an, es werde heute Abend ein Bus mit drei Touristen, den Personen A, B, C, eintreffen. Jede von ihnen kann entscheiden, entweder in Hilberts Hotel zu übernachten oder aber mit dem Bus in den nächsten Ort weiterzureisen. Die Direktorin, eine besonders gewissenhafte Frau, die auf die Eigenheiten ihrer möglichen Gäste A, B, C einzugehen versucht, möchte alle Möglichkeiten gedanklich durchspielen, die sich ergeben können. Es kann erstens jeder der Touristen entscheiden, weiterzufahren, keiner übernachtet. Es kann zweitens Tourist A entscheiden, zu übernachten, und die beiden anderen wollen weiterfahren. Und drittens oder viertens können jeweils Tourist B oder Tourist C im Hotel absteigen wollen, während die jeweils beiden anderen weiterfahren. Fünftens, sechstens oder siebentens könnte es sich auch gerade umgekehrt verhalten: A will weiterfahren, B, C wollen übernachten. Oder B will weiterfahren, A, C wollen übernachten. Oder C will weiterfahren, A, B wollen übernachten. Schließlich könnten sich achtens sogar alle drei Touristen für das Übernachten in Hilberts Hotel entscheiden. Die gewissenhafte Direktorin schreibt alle acht genannten Möglichkeiten auf acht Blättern ihres Notizblockes auf und teilt dem Reisebüroleiter mit, sie sei auf das Kommen des Busses gut vorbereitet, egal wie sich die Insassen entscheiden.
So weit, so einfach. Nun jedoch stellen wir uns vor, der Reisebüroleiter kommt zur Direktorin von Hilberts Hotel und kündigt an, es werde heute Abend ein Bus mit unendlich vielen Touristen eintreffen. Jeder von ihnen kann entscheiden, entweder in Hilberts Hotel zu übernachten oder aber mit dem Bus in den nächsten Ort weiterzureisen. Wieder zieht sich die gewissenhafte Hoteldirektorin zurück, um sich auf ihrem Notizblock mit unendlich vielen Zetteln alle Möglichkeiten zu notieren, die sich ergeben können. Nach geraumer Zeit kommt sie zum Reisebüroleiter zurück und erklärt, die Aufgabe, alle Möglichkeiten aufzuschreiben, überfordere sie, ja würde jeden überfordern. „Das kann doch nicht so schwer sein“, herrscht sie der Reisebüroleiter an und nimmt ihr den Notizblock mit den unendlich vielen Zetteln aus der Hand. Nachdem er emsig alle Zettel des Blocks vollgeschrieben hat, wendet er sich ihr freudestrahlend zu: „Ich glaube, jetzt habe ich alle denkbaren Kombinationen von übernachtenden oder weiterfahrenden Touristen notiert.“ „Das kann nicht sein“, repliziert die Direktorin mit Bestimmtheit in der Stimme. „Warum nicht?“, fragt er, die unendlich vielen vollgekritzelten Zettel in seiner Hand, verdutzt.
Jetzt nimmt die Direktorin ihrerseits ein Blatt Papier zur Hand und fragt ihr Gegenüber: „Was macht auf Ihrem ersten Blatt der erste Tourist?“
„Er übernachtet“, bekommt sie zur Antwort. Sie aber schreibt auf ihren Zettel, dass der erste Tourist weiterfährt, und fragt weiter: „Was macht auf Ihrem zweiten Blatt der zweite Tourist?“
„Er fährt weiter“, bekommt sie zur Antwort. Jetzt schreibt sie auf ihren Zettel, dass der zweite Tourist bei ihr übernachtet, und stellt als nächste Frage: „Was macht auf Ihrem dritten Blatt der dritte Tourist?“
Und so setzt sich das Frage- und Antwortspiel endlos fort. Immer fragt sie, wie sich auf dem x-ten Blatt des Reisebüroleiters der x-te Tourist verhalte – wobei x der Reihe nach die Zahlen 1, 2, 3, … symbolisiert –, und notiert auf ihrem Zettel gerade das Gegenteil von dem, was ihr der Reisebüroleiter antwortet.
Zum Schluss aber sagt die Direktorin: „Den Zettel, so wie ich ihn ausgefüllt habe, haben Sie bestimmt nicht in Ihrem Block. Denn er kann nicht mit Ihrem ersten Blatt übereinstimmen, weil sich der erste Tourist bei mir anders verhält als bei Ihnen. Und er kann auch nicht mit Ihrem zweiten Blatt übereinstimmen, weil sich der zweite Tourist bei mir anders verhält als bei Ihnen. Er kann überhaupt mit keinem x-beliebigen Blatt in Ihrem Block übereinstimmen, weil sich nämlich jener Tourist, dessen Nummer zugleich die des Blattes ist, bei mir anders verhält als bei Ihnen.“
Für ein paar Minuten blickt sie der Reisebüroleiter sprachlos an. Dann aber meint er: „Nun gut, dann nehme ich noch Ihren Zettel in meinen Katalog auf, und dann haben wir wirklich alle denkbaren Möglichkeiten durchgespielt.“
„Verstehen Sie denn nicht, dass es sinnlos ist?“, gibt ihm mit leiser Ungeduld in der Stimme die Direktorin zur Antwort. „Wenn Sie meinen Zettel in Ihre Liste stecken und damit wieder zu mir kommen, könnte ich das gleiche Frage- und Antwortspiel von vorher beginnen. Damit erzeuge ich erneut einen Zettel, der in Ihrem erweiterten Block bestimmt nicht vorkommt. Es kann einfach keine Liste von allen denkbaren Kombinationen der einzelnen Entscheidungen der unendlich vielen Touristen geben.“
Dieses zuletzt erzählte Paradoxon geht auf den deutschen Mathematiker Georg Cantor zurück, der es 1873 entdeckt hatte. Er fand darin die wohl eigentümlichste Eigenschaft des Unendlichen: Zuweilen ist Unendliches „abzählbar“. Damit ist gemeint, dass man es wie die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, … in eine Reihenfolge bringen kann. Zum Beispiel die unendlich vielen Zimmer von Hilberts Hotel, welche die Zahlen sogar als Nummernschilder tragen. Oder die unendlich vielen Touristen in den riesigen Bussen. Oder die unendlich vielen Reisebusse vor dem unendlich großen Parkplatz des Hotels. Bei einer abzählbar-unendlichen Menge wird jedes ihrer Elemente irgendwann in der Aufzählung genannt. Die zuletzt geschilderte Geschichte zeigt jedoch, dass uns Unendliches auch „überabzählbar“ entgegentreten kann. So dass es unmöglich ist, die Elemente der überabzählbar-unendlichen Menge so anzuordnen, dass jedes ihrer Elemente irgendwann erfasst wird. Die überbordend vielen Möglichkeiten der unendlich vielen Touristen, jeweils für sich zu entscheiden, in Hilberts Hotel zu übernachten oder nicht, bilden ein Beispiel für die Elemente einer derart chaotischen überabzählbar-unendlichen Menge.
Den Unterschied zwischen der abzählbaren und der überabzählbaren Unendlichkeit macht man sich am besten anhand zweier Bilder klar: Die abzählbare Unendlichkeit entspricht der Warteschlange vor einer Bushaltestelle in London. Die Engländerinnen und Engländer sind ja berühmt dafür, sich diszipliniert in Reih und Glied anzustellen. Nur muss man sich vor dieser Haltestelle, wenn man so wilclass="underline" vor „Hilberts Haltestelle“, unendlich viele Personen angestellt denken. Aber auch dann gibt es dort eine erste, eine zweite, eine dritte, und so weiter. Jede von ihnen hat gleichsam eine Zahl als Nummer und sie weiß: Sobald alle Personen mit kleineren Nummern als sie in den Bus eingestiegen sind, kommt sie als Nächste dran.
Die überabzählbare Unendlichkeit hingegen entspricht dem Andrang des Publikums vor der Garderobe im Wiener Musikvereinssaal, wenn das philharmonische Konzert zu Ende ist: Alle – und bei „Hilberts Garderobe“ sind dies eben unendlich viele – bestürmen mit ihren Garderobezetteln die Garderobiere, ihnen den Mantel auszuhändigen. Es herrscht ein heillos unentwirrbares Tohuwabohu. Die arme Garderobiere ist völlig hilflos. Bei diesem Durcheinander kann es ihr gar nicht gelingen, auch nur irgendeine Ordnung bei der Kleiderrückgabe zu schaffen. Immer wird sich irgendein Konzertbesucher zurückgesetzt fühlen, weil er nie zu seinem Mantel kommt.